Das stille Leid des Krieges
Sergei Loznitsas „Blockade“ hat Premiere beim Festival in Rotterdam.
16 Monate, von September 1941 bis zum Januar 1943, war die sowjetische Millionenmetropole Leningrad von Hitlers Truppen eingeschlossen, wurde bombardiert, beschossen, die Versorgung mit Nahrungsmitteln und Energie brach zusammen, doch die ehemalige Residenz der Zaren und stolze „Hauptstadt“ der Revolutionen von 1905 und 1917 hielt der Belagerung tapfer stand, noch heute ein Mahnmal des „Großen Vaterländischen Krieges“, aber auch eine Leidensgeschichte ohne gleichen. Sergei Loznitsa hat in russischen Filmarchiven gestöbert und 52 Minuten originales Dokumentarfilmmaterial, z.T. wahrscheinlich noch nie veröffentlicht, von dutzenden Kameramännern zusammengetragen, um eine snapshot-artige Geschichte der „Blockade“ aufzuzeichnen.
Im Spätsommer 1941, während die deutsche Wehrmacht nach ihrem „Blitzkrieg“-Überfall auf die Sowjetunion der Stadt immer näher rückt, rüstet man sich in Leningrad zur Verteidigung. Flak-Geschütze werden in Stellung gebracht, Fesselballone steigen auf, selbst Frauen müssen in den Krieg ziehen. Noch ist der Feind nicht direkt vor den Toren der Stadt und so sehen die Kameras auch noch manches ganz normale Stadtleben. Doch dann schlagen die ersten Granaten ein, Görings Luftwaffe bombt. Luftalarm, in die Luftschutzkeller eilende Menschen, die, nachdem die Feuer gelöscht sind, in den Trümmern nach Überlebenden suchen. Bilder, wie sie ein Jahr zuvor britische Kameramänner in London und Coventry aufgezeichnet haben und zwei Jahre später deutsche Kameramänner in den Großstädten von Hamburg bis Berlin. Der russische Winter kommt, Schnee umhüllt die Ruinen, zerschossene Fahrzeuge, aber immer noch rollen die Straßenbahnen und befördern Soldaten aus dem Herzen der widerständigen Stadt direkt an die Front.
Von der zeigen die Bilder wenig, dies ist keine Kriegsberichterstattung, wie man sie von den aus Original-Material zusammengestellten Dokus à la Guido Knop von ZDF-History kennt. Loznitsa beschränkt seine Auswahl bewusst aufs „Hinterland“, zeigt nicht die spektakulären Schlachtengemälde, sondern das Material, das die sowjetische Berichterstattung seinerzeit wohl auch aus propagandistischen Gründen aussparte, das stille Leiden des Krieges. Not macht erfinderisch – man sieht Kolonnen von Leningradern, die in den Überresten nach dem Wenigen fürs Überleben suchen – und apathisch: erschütternd die Bilder von Toten an den Straßenrändern, an denen sie Passanten teilnahmslos vorbeigehen, konzentriert auf den eigenen Überlebenskampf.
Dsiga Wertows in den 30er Jahren entwickeltes dokumentar-ästhetisches Konzept des „Kino-Auges“ scheint dahinter zu stehen, ein Ultra-Realismus, der die Kamera gleichsam frei von Ideologie „alles“ filmen lässt, als minutiöses Protokoll des sich Ereignenden. Schon die Montage wäre ein Mittel der „Ver-Spielfilmung“, die Wertow in seinen späteren Werken strikt ablehnte, vielmehr den Prozess des Dokumentierens selbst dokumentierte (etwa in „Der Mann mit der Kamera“). Dieser Ästhetik folgt auch Loznitsa, indem er das vorgefundene Material nicht (oder kaum) schneidet, sondern nur (chronologisch) reiht. Schwarzbilder zwischen den Sequenzen, die oft da abbrechen, wo dem Kameramann einst das Filmmaterial ausging, machen das deutlich.
Mit einem kleinen Geniestreich gelingt eine weitere Stufe des Ultra-Dokumentarischen: Den an sich stummen Aufnahmen hat Vladimir Golovnitsky eine dezente, weil ganz auf Musik oder Kommentare verzichtende atmosphärische Nachvertonung unterlegt, die Geräusche der Straße, das Klingeln der Straßenbahnen, das wortlose Scharren der Überlebenden im Schnee nach Resten. Noch bedrückender werden so die Filmbilder, der Betrachter wähnt sich trotz des historischen Schwarz-Weiß mitten im Geschehen, mitten im leidvollen Alltag einer belagerten Stadt in der Agonie ihres Todeskampfs.
Der zweite Belagerungswinter ist da. Jetzt wird überall nur noch gestorben. Leichenhaufen, die Haufen von Leichen sind, keine stille Anklage, sondern Dokument frei von Kommentar – und frei von Propaganda. Selbst die frohen Gesichter, als die Kanonen der Verteidiger am Ende der Belagerung ein Freudenfeuerwerk an den Himmel über Leningrad zaubern, zeigen nicht heroische Sieger, sondern Menschen, die das im großen Kriegsgeschehen kleine und doch individuell so große Glück des Überlebens manifestieren.
Sergei Loznitsas „Blockade“, gefördert von der Kulturellen Filmförderung S.-H., hat Premiere beim Filmfestival in Rotterdam. Der Film ist dort am 27.1, 29.1. und 3.2. zu sehen. (jm)
„Blockade“, RUS 2005, 35 mm, 52 Min.; Regie: Sergei Loznitsa; Vertonung: Vladimir Golovnitsky; Produktion: St. Petersburg Documentary Film Studio, Viatcheslav Telnov; gefördert von der Kulturellen Filmförderung S.-H.