47. Nordische Filmtage Lübeck

Tabuthema Lust und Schmerz

„Nachbarn / Naboer“ (Pål Sletaune, NOR 2005)

Der Norweger Pål Sletaune gilt seit seinem Erstling „Junk Mail“ (1997) als außergewöhnliches Regietalent. Mit seinem dritten Spielfilm „Nachbarn“ sorgte er bei der Uraufführung in Venedig für erhitzte Gemüter. Auslöser dürfte die Schlüsselszene des Films sein, in der eine junge Frau den Protagonisten des Films erst durch Sex-Talk anheizt, verführt und dann in einen Strudel aus Lust und Schmerz und reichlich Blut zieht. Sletaune inszeniert in kühlen, klaren und deshalb um so schockierenderen Bildern und thematisiert mit „Nachbarn“ das Tabu Lust und Schmerz.

Kaum wurde der 30-jährige John (Kristoffer Joner) von seiner Freundin im Streit verlassen, zieht ihn auch schon die attraktive Nachbarin Anne (Cecilie Moslie) unter fadenscheinigem Vorwand in ihre Wohnung. Annes junge Mitbewohnerin Kim (Julia Schacht) macht John ungeniert und provokant eindeutige Avancen, denen John zunächst noch widerstehen kann. Doch bei einer erneuten Begegnung am nächsten Tag kommt es zum erotischen Schlagabtausch. Sletaune versteht es, eine psychologische und filmische Versuchsanordnung aufzubauen, die den (männlichen) Zuschauer unweigerlich zum Gegenstand der Untersuchung macht. Abgelenkt durch die erotische Spannung trifft Kims Faustschlag nicht nur John mitten ins Gesicht, sondern auch den Betrachter. Sletaune macht nicht nur die Lust spürbar, sondern auch den Schmerz. Eine Mischung aus Überraschung, Schuld, Schmerz und Wut übermannt John. Die Nase blutet. Er zögert. Einen zweiten Schlag beantwortet er dann mit einen Fausthieb. Auch Kim blutet. Auf einen kurzen aber heftigen Fight folgt ein ebensolcher Coitus. Die nächste Einstellung zeigt John vorm Spiegel in seiner eigenen Wohnung, entsetzt über seine blutige Visage, aber mehr noch über die Grenzüberschreitung, zu der er sich hat hinreißen lassen.

Verführerisch wie verstörend: „Nachbarn“ (Foto: NFL)

Sletaune nutzt für sein Kammerspiel brillant die Inszenierung des Raumes zur Visualisierung der Isolation, Schuldgefühle und zunehmenden Verwirrung seines Helden. Die Zimmer werden enger, fensterlos. John verläuft sich bei seinem nächsten Besuch in der nachbarlichen Wohnung in langen Fluren mit verschlossenen Türen.

„Nachbarn“ ist filmisch interessant und äußerst fesselnd gestaltet, aber leider verlässt Sletaune der Mut, das Thema weiter auszuloten oder einfach nur die als These formulierte Idee einer erotischen Variation zur Diskussion zu stellen. Denn im letzten Drittel des sich zum Horror-Psychothriller hochschraubenden 78-minütigen Films werden wir gewahr, dass John nicht erst nach der sado-masochistischen Begegnung mit Kim in den Wahnsinn gleitete, sondern praktisch die ganze Geschichte eine Projektion seines verwirrten Geistes ist. Er schönt seine sadistischen Neigungen, indem er sich zum Opfer fantasiert. Dieses Ende relativiert die Schlüsselszene, eine moralische Hintertür bleibt offen und erstickt alle Diskussionsansätze. Doch zumindest bleibt der Schlag ins Gesicht der Zuschauer, die sich für einen kurzen, aber intensiven Moment lang der Frage stellen mussten, wie sie an Johns Stelle reagiert hätten. (dakro)

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