9. Filmfest Schleswig-Holstein Augenweide
Afrikanische Blicke auf Europa
„Acrobats – The Story of the Urban Spaceman“
In „Acrobats – The Story of the Urban Spaceman“ des finnischen Dokumentarfilmers Johan Karrento werden wir Europäer mit afrikanischen Augen betrachtet. Die Bilder zeigen Stereotypen aus der Freizeit- und Feierabendwelt unserer Mittelklasse-Gesellschaft in schönen Vororten oder aus den Vergnügungen der nächtlichen Städte, signalisieren Wohlstand und Konsum ohne Anstrengung. Sie propagieren den Luxus einer Wohlstandsgesellschaft, in der die Sorgen eher dem gut gepflegten Garten und dem abendlichem Vergnügen zu gelten scheinen als einem Überlebenskampf, wie er in der Dritten Welt häufig auf der Tagesordnung steht. Dazu hört man aus dem Off einen vielstimmigen Chor afrikanischer Meinungen und Erfahrungen über Europa. Gutes und Schlechtes wird erzählt, gespeist aus eigener Erfahrung aber auch aus Vorurteil, Illusion und Ironie.
Europa erscheint vielen Afrikanern wie das gelobte Land. Der Wunsch hierher zu kommen ist groß. Hier scheint es eine Zukunft zu geben. Die materielle Existenz scheint gesichert, Versorgung mit Trinkwasser und Elektrizität kein Problem zu sein. Menschlicher Respekt und sozialstaatliche Sicherheit, die es in Afrika nicht gibt, scheinen hier selbstverständlich, ein Überleben und mehr auf Dauer nur hier machbar. Unsere Abhängigkeit von den Rohstoffen der Dritten Welt wird selbstironisch in ihr Gegenteil verkehrt. Afrika wäre aufgeschmissen, wenn es uns nicht zum Ausbeuten seiner Lagerstätten hätte.
Auf der anderen Seite werden z.B. die Schwächen im Zwischenmenschlichen mit erstauntem Nicht-Begreifen registriert. Wie ist es möglich, dass Kinder ihre Eltern jahrelang nicht besuchen, obwohl sie nur hundert Kilometer von ihnen entfernt wohnen. Kann man es z.B. verstehen, dass sich Nachbarn kaum um einander kümmern? Vieles erscheint bürokratisch rigide und nicht menschlich. Auch das Klima, der für afrikanische Augen unendliche Regen und die lange dunkle Jahreszeit sind für die Schwarzen eher eine Qual.
Doch der Film wirft auch afrikanische Vorurteile und Selbstüberschätzungen in den Dialog mit den Zuschauern, bei denen man sich bisweilen fragt, ob sie nicht auch eine selbstironische Komponente haben. Man tröstet sich z.B. damit, dass einem durch die afrikanische „Unterentwicklung“ auch die Konflikte der Ersten Welt erspart bleiben und man in Afrika wesentlich friedlicher leben würde als bei uns.
So entwickelt der 40-minütige Film allmählich bei allen unterschiedlichen Meinungen doch eine gewisse einheitliche Grundeinstellung der Afrikaner zu der westlichen Zivilisation. Europa bleibt ihnen eher ein Rätsel, oft ein wunderbarer Traum, den sie häufig nicht verstehen, sondern nur akzeptieren können bzw. müssen. Die afrikanischen Kommentare, die das bezeugen und verständlich machen, brechen dabei auch unsere Bilder von der uns bekannten Wohlstandsgesellschaft und geben diesen Chiffren der Ersten Welt einen neuen, ungewöhnlichen, oft kritischen Sinn. Und eine schöne Pointe: Afrikaner erklären uns unsere Welt, so wie wir schon oft meinten, ihnen Afrika erklären zu müssen. (Helmut Schulzeck)