Märchen und Einsamkeit
Der Dokumentarfilm „Die wundersamen Reisen des Hans Christian Andersen“
„Die wundersamen Reisen des Hans Christian Andersen“, so der Titel des 87-minütigen Dokumentarfilms, den der Kieler Regisseur Wilfried Hauke zusammen mit Co-Regisseurin Piv Bernth anlässlich des 200. Geburtstages des dänischen Dichters realisierte (gefördert von der MSH sowie dem dänischen Bikuben-Fond), lässt ein märchenhaftes Schicksal für den Protagonisten vermuten, vielleicht mit einem Happy End. Doch nur was seine Karriere als Märchendichter betrifft war dem Manne aus Odense Erfolg, Ruhm und Glück beschieden. Ansonsten blieb er zeitlebens ein Außenseiter, der persönlicher Zuneigung, Sympathie und Liebe hinterherjagt – oft vergeblich, ein ewig Getriebener, der sich zwanghaft bemüht, Mittelpunkt zu sein und doch letztlich meistens allein bleibt.
Aus ärmlichen Verhältnissen kommend gelingt es dem jungen Andersen, in Kopenhagen Fuß zu fassen. Die philanthropischen Neigungen des Theaterdirektors Jonas Collin, der aus dem Halbwüchsigen ein nützliches Mitglied der Gesellschaft formen möchte, helfen ihm dabei. Obwohl er sich mit seiner Egozentrik, seinen homosexuellen Neigungen und Ansprüchen nach gesellschaftlicher Anerkennung oft selbst im Wege steht, gelingt Andersen ein allmählicher Aufbau einer Karriere. Anfänglichen literarischen Misskredit – 1840 überwirft er sich z. B. mit der kulturellen Öffentlichkeit Kopenhagens – und er Enge der Heimat begegnet er mit Reisen, besonders auch nach Deutschland, wo er Anerkennung auch von Vorbildern und Kollegen findet. Mitte der 40er Jahre schafft er schließlich mit dem Märchen vom hässlichen Entlein und anderen den Durchbruch zu einer internationalen Karriere.
Obwohl Haukes Film die wichtigsten Märchen und andere Werke Andersens anspricht, geht es ihm weniger darum, die Werkbiografie des Dänen nachzuzeichnen. Er versucht vielmehr, das Seelenleben und die „Psychopathologie“ eines Menschen zu beleuchten, der wirkliche intime Nähe und Liebe von anderen nie kennengelernt hat, deshalb seine Sehnsüchte und Träume in Fantasie und Dichtkunst sublimiert und kompensiert.
Andersen als ewig Gehemmter und Verklemmter, eitler Selbstbespiegler versucht sein Leben für die Öffentlichkeit neu zu erfinden und alles zu löschen, was einem positiven Bild von ihm abträglich seine könnte. Insofern entsprechen die inszenierten Spielszenen im Film um den Darsteller Lars Mikkelsen als Andersen einer inneren Logik. Das Maskenhafte des Schauspielers wird dem Rollenspiel der historischen Person gerecht. Dem Film kommt natürlich entgegen, dass der Däne gewissermaßen Weltmeister im Reisen war. Ob Harz, Neapel, Istanbul oder Paris: Die Möglichkeiten zur Illustration des Lebens eines ständig äußerlich und innerlich Getriebenen werden weidlich genutzt. Hier liegt aber auch eine der Schwächen des Films. Er begnügt sich eher mit gefälligen Bebilderungen der Filmerzählung, als dass er einen Charakter entwickelt. Illustration eines guten Textes tritt an die Stelle von einer Bildsprache, die die Entfremdung des Dichters zu seiner Umwelt hätte deutlich machen können. Einzig die Starre und Schablonenhaftigkeit von Mikkelsen müssen die Einsamkeit Andersens verbürgen.
Lars Mikkelsen als H. C. Andersen
Wilfried Hauke sagt in einem Interview, dass er keine Möglichkeit hatte, den Charakter von Andersen zu entwickeln. (Warum eigentlich nicht?) Insofern ist der Film nicht wie behauptet ein „Dokudrama“. Ihm fehlt die dramatische Struktur. Statt dessen setzt er seinen Protagonisten als ewig gleich bleibende Figur in Szene. Andersen im Alter von 30 Jahren wirkt nicht viel anders als mit Ende 60. Immer die gleiche kauzige, marionettenhafte Maske eines einsamen Menschen. (Helmut Schulzeck)