55. Internationale Filmfestspiele Berlin – Berlinale 2005
Nach der Revolution
„Kong Que / Peacock“ (Gu Changwei, VR China, 2004)
Mit dem Tod Mao Zedongs im Jahre 1976 endet nicht nur die Ära des bedeutenden chinesischen Revolutionärs, Gründer und „großen Vorsitzenden“ der Volksrepublik China, sondern auch die 10 Jahre währende „Große Proletarische Kulturrevolution“. Ende 1965 hatte sich Zedong in einem machtpolitisch brillanten Schachzug an die Spitze einer antirevisionistischen Studentenbewegung gesetzt und damit seine Macht in der KP Chinas nachhaltig gesichert. Erklärtes Ziel der „Kulturrevolution“ war die Abschaffung der „Vier Alten“: Ideen, Kultur, Sitten und Gebräuche. Sie richtete sich in China vor allem gegen das Bildungsbürgertum oder, wie in Tibet, gegen alle religiösen Institutionen und ihre Vertreter. Die Folge waren Hunderttausende von Toten (Schätzungen sprechen von mehr als einer Million), die Zerstörung tausender Tempelanlagen und eine auf Jahre hinaus traumatisierte Bildungsschicht. Heute bewertet die Kommunistische Partei Chinas die Kulturrevolution als „schweren Fehler des Genossen Mao Zedong in seinen letzten Jahren“.
Gu Changweis Geschichte beginnt im Jahr nach Maos Tod im Jahr 1977, in einer Gesellschaft, die noch unter dem Schock einer Alles erfassenden Revolution steht, die ein geistiges, selbstbestimmtes Leben totalitär unterdrückt hat. Er verfolgt das Erwachsenwerden dreier, um die 20 Jahre alter Geschwister, einer Tochter und zweier Söhne, bis Mitte der 80er Jahre.
Changwei seziert in drei mit einander verwobenen Teilen, die jeweils einen Schwerpunkt auf eines der drei Geschwister legen, ihre Suche nach einer eigenen Identität, nach einem Platz in der Gemeinschaft, einem Stück Lebensglück. Dabei beweist der Regiedebütant nicht nur einen schmerzhaft genauen, von keinerlei Nostalgie getrübten Blick, sondern vor allem ein außerordentliches Talent, die zur gesellschaftlichen Situation seiner Protagonisten im Widerspruch stehenden Gefühlswelten in transzendente Bilder und Szenen umzusetzen. Wenn Weihong, die Tochter, nach stundenlanger stupider Arbeit ihrer Lebenslust freien Lauf lässt und mit einen selbst genähten Fallschirm am Fahrrad durch die Straßen ihrer Kleinstadt rast, wird sie bald von einer ordnungsliebenden Genossin zu Fall gebracht. Beide gehen zu Boden. Ein junger Offizier rettet den Fallschirm und verlangt später für die Herausgabe ein Rendezvous in einem Wald. Als Weihong einwilligt und sich ihm zu seiner Überraschung hingeben will, bekommt der junge Mann Angst vor der eigenen Courage und schießt sich lieber in den Fuß als sich auf die junge Frau einzulassen.
Fabelhafte Darsteller: Yulai, Li und Jing sowie Regisseur Changwei (v.l.) (Foto: Berlinale)
„Kong Que“ ist zwar sein erster Film als Regisseur, doch Changwei hat sich einen Ruf als hervorragender Kameramann bei Meisterregisseuren wie Chen Kaige und Zhang Yimou erarbeitet. Seine Bildkader sind exquisit komponiert, die oft statische Kamera korrespondiert mit der Starre, in die die chinesische Gesellschaft verfallen ist. In einer einzigen, langen Einstellung kann Changwei die Tristesse der Arbeitswelt in der Volksrepublik darstellen: eine Gruppe Arbeitern müht sich, aus einem Haufen Kohlestaub Briketts zu formen und aufzustapeln. Ein plötzlicher Regenschauer zerstört das Tageswerk vor ihren Augen, weil nicht genug Plane herbeigeschafft werden kann und die Kohle weggeschwemmt wird.
Die aufgestaute Aggression der Tochter und des jüngeren Bruders entladen sich auch am älteren „großen“ Bruder, der durch ein Gehirnfieber im Kindesalter geistig zurückgeblieben ist und von der Mutter stets bevorzugt behandelt wird. Ihr Versuch, ihn mit Rattenpestizid zu vergiften, kann von der Mutter vereitelt werden. Doch der Riss durch die Familie ist deutlich. Erst nach dem Tod der Eltern kommen die Geschwister wieder zusammen. Der jüngste Sohn hat eine Frau mit Kind aus erste Ehe geheiratet, die Schwester ist geschieden, der große Bruder betreibt mit seiner ebenfalls geistig behinderten Frau einen Imbiss.
Changwei summiert seine Geschichte in der letzten Einstellung. Bei einem gemeinsamen Besuch im Zoo warten die Drei vor einem Gehege vergebens darauf, dass der „Kong Que“, ein Pfau, sein Rad schlägt. Als der Vogel sein prachtvolles Gefieder endlich zeigt, sind die drei Geschwister bereits weitergezogen. Wieder einmal verweigert ihnen das Leben einen Moment der Vollkommenheit und des Glücks. (dakro)