55. Internationale Filmfestspiele Berlin – Berlinale 2005

Ein mittelprächtiger Jahrgang 2005: Überblick über den Wettbewerb

Berlinale 2005: Festival-Direktor Dieter Kosslick versuchte aus der Not eine Tugend zu machen. Europäische Autorenfilme, Filme aus Asien und Afrika sollten darüber „hinwegtrösten“, dass Berlin eher mit US-Filmen aus der zweiten Reihe vorlieb nehmen musste (bzw. wollte). Seitdem die Oscars schon Ende Februar und nicht mehr Ende März verliehen werden und die US-amerikanischen Blockbuster weltweit oft möglichst zeitnah gestartet werden, haben amerikanische Majors nicht mehr unbedingt das Interesse an Berlin wie in früheren Festivaljahren. Zwei der Oscar-Favoriten, „Aviator“ und „Ray“, liefen schon Wochen vor der Berlinale in unseren Kinos an. Ein dritter, der spätere große Winner in Hollywood, „One Million Dollar Baby“, war als Eröffnungsfilm im Gespräch, kam für Kosslick letztendlich aber dann doch nicht in Betracht, weil sein Produzent, Regisseur und Schauspieler in einer Person, Clint Eastwood, nicht verbindlich sein Erscheinen in Berlin zusagen wollte.

Wie traditionell üblich versuchte Berlin mit politischen Themen Akzente zu setzen. Ob Sophie Scholl, der Holocaust (im ungarischen Beitrag „Fateless“ von Lájos Koltai), Mitterand („Der späte Mitterand“ von Robert Guédiguian), oder Ruanda, das sogar in zwei Wettbewerbsfilmen behandelt wurde („Hotel Rwanda“ von Terry George und „Sometimes in April“ von Raoul Peck). Historische Aufklärung war Trumpf. An ein brisantes Thema traute sich „Paradise Now“ von Hany Abu-Assad (eine niederländisch-deutsch-französische Koproduktion) heran. Der mutige Film schildert sensibel die Motivationen zweier junger palästinensischer Selbstmordattentäter, bei denen religiöser Fanatismus keine Rolle spielt, und die scheinbar tragische Ausweglosigkeit ihres Tuns.

„Paradise Now“

„Wenn die Israelis vor der ganzen Welt so tun, als wären sie Opfer, obwohl sie in Wahrheit die Unterdrücker sind, dann sehe ich auch keine andere Möglichkeit, als Opfer und Mörder zugleich zu sein“, lautet das zentrale Argument eines der Täter. Bezeichnenderweise versucht eine Frau, eine arabische Exilantin, die in das Geschehen verstrickt wird, die Spirale der Gewalt zu durchbrechen. Sie setzt auf Worte statt auf Sprengstoff. Die Auswahlkommission für den Wettbewerb war gegen den Film. Nur Kosslicks Beharren ist zu verdanken, dass der Film der Berlinale nicht entgangen ist.

Dass der Goldene Bär dann aber an den reizvollen Außenseiter, die südafrikanische Produktion „U-Carmen eKhayelitscha“ von Mark Dornford-May ging, die Bizets Oper nicht nur in die Kulisse sondern auch in das soziale Umfeld einer Kapstädter Township transponiert, überraschte doch allenthalben.

„Carmen“ südafrikanisch und mit goldenem Bären verziert

Mit zwei Bären, für Regie und Hauptrolle, wurde „Sophie Scholl – Die letzten Tage“ von Marc Rothemund geehrt. Der kammerspielartige Film ist besonders sehenswert dank einer überragenden Julia Jentsch. Christian Petzolds „Gespenster“ hinterließ bei Kritik und Publikum gemischte Eindrücke. Von großartiger Darstellung, Vereinsamung und gesellschaftlicher Kälte war die Rede, aber auch von Langeweile auf höchstem kulturellen Niveau. Da hatte es der dritte deutsche Wettbewerbsbeitrag, der Episodenfilm „One Day in Europe“ von Hannes Stöhr, schon leichter.

„One Day in Europe“ episodisch

Komödiantisch und über weite Strecken kurzweilig wird das Thema der europäischen Verständigung am Beispiel von echten und fingierten Gepäckdiebstählen an vier europäischen Schauplätzen am selben Tag durchdekliniert.

Nicht ganz überraschend kamen fünf (!) französische Filme in den Wettbewerb. Herausragend unter diesen Beiträgen war André Téchinés „Les temps qui changent / Changing Times“ (mit Catherine Deneuve und Gérard Depardieu), dessen elliptisch erzählender Schauspielerfilm von seelischen Verwundungen, Liebesverlangen und Identitätsprobleme handelt. Ebenso sehr sehenswert war „De battre mon cœur s’est arreté / Der Schlag der mein Herz verspielte“ von Jacques Audiard, der die Wandlung vom nur materiell eingestellten „Mistkerl“ zum geläuterten Pianisten zeigt.

Traum vom Pianisten: „De battre mon cœur s’est arreté“

Die Emanzipationsgeschichte eines jungen Mannes, heraus aus dem Einfluss seines zwielichtigen Vaters und seiner kriminellen Freunde, gelingt scheinbar. Sein Traum, ein erfolgreicher Konzertpianist zu werden, erfüllt sich zwar nicht. Aber er schafft es, seinem ursprünglichen sozialen Umfeld zu entweichen und ein neues Leben mit seiner ehemaligen Lehrerin, einer Konzertpianistin, zu führen, bis ihn seine Vergangenheit einholt. Der Film hat in seinem Lakonismus Anklänge an die Nouvelle Vague und erinnert in seinem Spiel zwischen Großstadtbrutalität und Freiheitsdrang an die frühen Filme von Scorcese.

Obwohl nicht allererste Major-Wahl, konnten sich einige der gezeigten US-Filme dennoch sehen lassen. Allen voran „Thumbsucker“ von Mike Mills, der die spät-pubertären Nöte eines Daumenlutschers aus einer Vorstadt des amerikanischen Mittelstandes beschreibt, wie man sie. schon z. B. in „American Beauty“ satirisch präsentiert bekam. Allerdings charakterisiert Mills seinen neurose-behafteten Mikrokosmos als weniger hysterisch, und die Geschichte hat sogar ein Happy End. Ein zweiter bemerkenswerter amerikanischen Film im Wettbewerb war das Bio-Pic „Kinsey“ (Regie: Bill Condom) über den berühmten amerikanischen Sexualforscher Alfred C. Kinsey, der Ende der 40er Jahre mit den Veröffentlichungen über das Sexualverhalten seiner Landsleute die puritanische US-Gesellschaft aus ihrer prüden Fassung brachte.

Sexualaufklärer „Kinsey“ (Fotos: Berlinale)

Comdom verbindet in diesem Film durch geschickt gesetzte Rückblenden die private Geschichte seines Protagonisten, der bezeichnenderweise einen vollkommen verklemmten und heuchlerischen Vater hat, mit der Geschichte seiner Sexualverhaltensforschungen.

Alles in allem war das Wettbewerbsprogramm in diesem Jahr eher mittelprächtig. Was man allerdings nicht unbedingt dem Ausbleiben der großen amerikanischen Filme zuschreiben sollte, sondern eher dem momentanen Stand der Dinge in der Kinowelt. Es stimmt schon nachdenklich, wenn wieder einmal ein besonders mittelmäßiger Film, der auch im Wettbewerb (außer Konkurrenz) zu sehen war und hier allenthalben als uninteressant eingestuft wurde, nämlich „Hitch – Der Date Doktor“ von Andy Tennant, mit dem zugegebenermaßen sehr charmant sein könnenden Will Smith, in Amerika alle Kassenrekorde zu brechen scheint und auch bei uns Millionen in die Kinos lockt. (Helmut Schulzeck)

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