Flippen bis der Daumen glüht: Erstes Internationales Daumenkinofestival Solitude in Stuttgart
Ein Schloss namens „Solitude“ scheint der passende Ort zu sein für ein Festival des Daumenkinos, denn im Unterschied zum großen Kino ist das Betrachten der dahin geblätterten Filmminiaturen ein einsames Vergnügen. Denkt man. Doch weit gefehlt.
Die Filmemacherinnen Sigrun Köhler und Witrud Baier, die mit Preis gekrönten Dokumentationen wie „How Time Flies“ und „Schotter wie Heu“ auf sich aufmerksam machten, nutzen ein Stipendium an der Akademie Solitude, hoch auf den Hügeln über Stuttgart, in geradezu altruistischer Weise, um das erste und bisher einzige Festival dieser Art ins Leben zu rufen. Sie rückten damit ein Medium ins Licht des öffentlichen Kunstinteresses, das bisher in einer kaum beachteten Spielzeugecke schlummerte.
In nur vier Monaten Vorbereitungszeit gelang es den beiden Filmemacherinnen zusammen mit Swaantje Burow und viel Rückhalt der Akademie Solitude eine Veranstaltung zu organisieren, die einem Großformat-Filmfestival in nichts nachstand. Ordnungsgemäß war auf den Anmeldeformularen die Kategorie der eingereichten Blätterfilmchen anzukreuzen: Animation, Spiel-, Dokumentar oder Experimentalfilm. Wer weiß das schon? Eine Eigenart des Daumenkinos ist ja gerade seine spielerische Unentschlossenheit zwischen allen Format-Stühlen und Genre-Schubladen.
Das Festival mit Preisverleihung am 18. Dezember war gleichzeitig der Auftakt einer vierwöchigen Ausstellung im Schloss Solitude. In einem geschwungenen Flur des barocken Palais‘ pendelten die rund 150 Flimmerbüchlein an Schnüren von der Decke und luden ein zum Blättern und Schlendern. Wer seine Daumenkuppe schonen wollte, konnte im Foyer alle ausgestellten Stücke auch abgefilmt auf Video betrachten.
Ausstellung der Daumenkinos im „Hirschgang“ von Schloss Solitude
34 der eingereichten Werke waren für die mit Kurzstipendien dotierten Hauptpreise des „Goldenen Daumens“ und des „Däumlings“ nominiert. Während der Eröffnungs-Gala wurden sie live unter einer DV-Kamera „geflippt“, damit das rund zweihundertköpfige Saalpublikum auf großer Leinwand dem kleinformatigen Bilderfluss folgen konnte.
Die inhaltliche und formale Vielfalt war immens und zeigte auf den ersten Blick, dass das Daumenkino ein eigenständiges Medium ist, das seiner Winzigkeit zum Trotz die Grenzen des Filmischen sprengen kann.
Es gab Flipbooks für Linkshänder, für Rechtshänder; Daumenkinos, die vorwärts, rückwärts, hochkant oder doppelseitig liefen und sogar eins in 3D. Thematisch reflektierten die Bücher alles, was mit Bewegung zu tun hat, ob körperlich, geistig oder rein visuell. Kleine, pointierte Cartoons waren ebenso vertreten, wie aufwändig inszenierte Kürzest-Spielfilme oder konzeptionelle Arbeiten, deren Kern gerade im nicht Gezeigten bestand.
„Flippen“ bis der Daumen glüht: Publikum beim Festival
Außerdem offenbarte sich, dass Daumenkinos keineswegs stumm sind. „Fahrrad“ von Matthias Lehmann aus Dresden präsentierte das Titel gebende Fahrzeug, wie es mit einem Bierdeckel in den Speichen das Bild durchquert, wobei das Schnarren der Seiten die passende Tonspur lieferte.
Ohnehin ist das Haptische und Handwerkliche der kleinen Laufbilderbücher ein wichtiger Aspekt ihrer Qualität und machte viele Stücke zum Kleinod und oft zitierten Gesamtkunstwerk. Ob geleimt, genäht, geklemmt, geschraubt oder professionell gebunden: Jede Technik, die die Seiten einigermaßen beieinander hielt, wurde angewendet.
Besonders exotisch wirkte „The Trojan Horse“ der malaysischen Künstlerin Lau Mun Leng: ein im wuchtigen Holzblock gebundenes Riesenbuch, dessen weiche Bütten-Seiten eher „flappten“ als „flippten“. Seine Bilder und Muster waren nicht gezeichnet, sondern so filigran mit einer Nadel gestochen, dass die digitale Projektionstechnik vor diesem Bündel fernöstlicher Anmut kapitulieren musste.
Das Interaktive und die zeitlich-räumliche Richtungslosigkeit des Daumenkinos setzte Judith Dürolf aus Bremen mit ihrer doppelseitigen Arbeit „Fremdgehen“ gekonnt um. Aus Unmengen von Fotos fügte sie eine virtuelle Schussfahrt zusammen, die das vertraute Ambiente einer Rolltreppe in ein abstraktes Spiel metallischer Strukturen auflöste, was in jeder Hinsicht und Richtung funktionierte.
So wie „Fremdgehen“ wurde der überwiegende Teil der Daumenkinos vom stehenden Bild her entwickelt, und die meisten Teilnehmer kamen aus den Bereichen freie Kunst, Design und Fotografie, wobei es einen überraschenden Altersschwerpunkt zwischen Endzwanzigern und Mittdreißigern gab. Sollte das Daumenkino ein Phänomen der letzten „Pre-Gameboy-Generation“ sein, die mit Farbfernsehen aber ohne Handy sozialisiert wurde?
Der schleswig-holsteinische Beitrag zur Stuttgarter Ausstellung: „Flip Flop Fly“ von Lorenz Müller. Hier oder auf das Bild klicken, um „Flip Flop Fly“ (daumenschonend) als Quicktime-Video (650 kB) zu sehen!
Wenn die Liebe zum geflippten Kurzfilm generationsbedingt ist, dann wäre Werner Enke allerdings ein echter Avantgardist. Der Autor und Schauspieler (geb. 1941), der 1967 mit der Münchener Szene-Komödie „Zur Sache Schätzchen“ bekannt wurde, war Jury-Mitglied und Ehrengast des Festivals.
In „Zur Sache Schätzchen“ gibt es eine Szene, in der Werner Enke die jugendliche Uschi Glas mit seiner „Filmproduktion“ beeindruckt, die sich als Zigarrenkiste voller Daumenkinos entpuppt. Wie Werner Enke nun vor dem Festivalpublikum in Stuttgart verriet, hatte er diese Requisiten bereits als Zehnjähriger eigenhändig angefertigt, um seine durch den Disneyfilm „Bambi“ entfachte Gier nach Kino zu befriedigen, die in seiner ärmlichen Nachkriegskindheit weitgehend ungestillt bleiben musste. So wurden die antiken Stücke, die mangels Papier auf den ausrangierten Quittungsblöcken des Großvaters gezeichnet worden waren, nun nach langer Zeit, live und in Farbe, einem begeisterten „Fachpublikum“ präsentiert, das die Boxkämpfe und Verfolgungsszenen der hyperaktiven Strichmännchen mit stürmischen Beifall bedachte.
Co-Veranstalterin Sigrun Köhler „flippt“ ein Original-Daumenkino von Werner Enke (Mitte) aus dem Film „Zur Sache Schätzchen“ (Fotos: Lorenz Müller)
Zusammen mit den drei anderen Jury-Mitgliedern Gabriele Röthemaier (Filmförderung Baden-Württemberg), Giovanna Thiery (Festival „Stuttgarter Filmwinter“) und Christoph Schulz (Co-Kurator einer Daumenkinoausstellung in der Kunsthalle Düsseldorf) hatte Werner Enke dann für die beiden Hauptpreise zwei Arbeiten ausgewählt, die in ihrer Unterschiedlichkeit das weite Spektrum der Ausstellung wie Grenzmarken repräsentierten.
Der „Däumling“ für die beste Erstlingsarbeit (zwei Wochen Stipendium plus 500 Euro Preisgeld) ging an den in Wien lebenden Tschechen Branko Bily (Jg. 1976). Sein zweibändiges Werk „Ein Nickerchen“ war ein gelungenes Beispiel für den narrativen Mini-Spielfilm, der die visuellen Möglichkeiten des Daumenkinos kunstvoll ausschöpft.
Ein Mann sitzt lesend im Garten und nickt ein. Er kippt vornüber in sein Buch hinein (Lewis Carolls „Phantasmagorien“) und geistert erschreckt durch die geblätterten Seiten bis er sich mühselig und schlaftrunken wieder heraus windet.
Der erste Preis des „Goldenen Daumens“ (vier Wochen Stipendium plus 1000 Euro Preisgeld) schließlich ging an eine konzeptuelle Arbeit, die durch ihre Vieldeutigkeit und formal-geniale Schlichtheit überzeugte. Der Schwede Birger Lipinski (Jg. 1970) und der Brasilianer Laercio Redondo (Jg. 1967) hatten mit ihrem Stück „Final Cut“ einen Beitrag geliefert, der „unter die Haut“ gehen konnte.
„Flip this book at your own risk!“ stand als Warnhinweis auf der Hülle, denn ihr Daumenkino bestand aus einem Stapel Klarsichtfolien, deren Blätterkanten echte Rasierklingen waren. Damit wurde die Frage der Zensur und Zweischneidigkeit der Medien, der Macht und Manipulierbarkeit der Bilder so treffend thematisiert, dass die Entscheidung auf allseitige Zustimmung stieß. Gleichzeitig wurde mit dieser Wahl das Bemühen der Jury deutlich, das Medium Daumenkino als „seriöse“ Kunstform zu etablieren, um der noch immer gegenwärtigen Trennung von U- und E-Kultur entgegen zu wirken.
Dafür scheint ein Daumenkino besonders geeignet, denn die Gefahr der Täuschung, die „Final Cut“ beschwört, ist ja gerade der sinnliche Kern und das spielerische Faszinosum dieses Mini-Mediums. Als blätternder Betrachter ist man zugleich Opfer und Urheber einer lustvollen Sinnestäuschung, gegen die man sich nicht wehren kann, denn die Trägheit der Netzhaut ist die Basis aller kinematografischen Illusion.
Dafür mag es die üblichen biologistischen Erklärungsversuche aus der Urzeit geben, wie blitzschnelle Angreifer oder Beutetiere, die es zu erspähen galt, doch ein so charmant archaisches Medium wie das Daumenkino zeigt deutlich, dass der Mensch von Natur aus nicht nur Jäger, Bauer oder Krieger war, sondern immer auch ein Kinogänger. (Lorenz Müller)