46. Nordische Filmtage Lübeck
Unerhörte Begebenheiten
Ein Blick auf einige Kurzfilme aus dem Wettbewerbsprogramm der Nordischen Filmtage
Es ist wie bei Roman und Novelle. Wo ersterer den langen Atem einer sich und die Figuren entwickelnden Geschichte braucht, erzählt die Novelle, so ihre Definition von Goethe, eine „unerhörte Begebenheit“. Nicht anders viele der Kurzfilme, die die Nordischen Filmtage als Vorfilme zu den Spielfilmen des Wettbewerbs zeigten.
„Bloß ein Zweig / Bare en kvist“ von Øyvind Sandberg (N 2004, 4 Min., 35 mm) leugnet eigentlich schon im Titel das Unerhörte der hier skizzierten Begebenheit und zeigt sie stattdessen als grotesken, zuweilen slapstickhaften Reigen rund um einen Zweig, der in den Händen eines Knaben zu einer ganz realen Pistole mutiert, mit der einem Bankräuber der Hosenknopf weggeschossen wird. Die Opfer dieses und weiterer Pistolenstreiche verfolgen nun den „Schützen“, um von dem zum Zauberstab mutierten Zweig zu Statuen verzaubert zu werden – bis der Stab/die Pistole durch die Luft wirbelt (ein nettes Zitat des berühmten Matchcuts aus Kubricks „2001 – Odyssee im Weltraum“) und zu dem wird, was er eigentlich ist, bloß ein Zweig. Ein munteres Movie mit geschickt dramatisierten Lach- und anderen Effekten.
Surreal wird die unerhörte Begebenheit in Niklas Rådströms „Der Eiffelturm / Eiffeltornet“ (S 2004, 13 Min., 35 mm). Im Traum irrt ein Mann durch Paris und kann den Eiffelturm nicht finden, er ist verschwunden. Als er am nächsten Morgen seiner Frau von diesem Traum berichtet, kann die ihren Mann nicht verstehen, denn der „Kippling-Tower“ steht schon seit über hundert Jahren in London. Selbiges sagt dem nun mehr und mehr verwirrten Mann auch ein Blick ins Lexikon, das zudem vermeldet, dass die Relativitätstheorie von Jules Verne entwickelt wurde. Kaum zu glauben und nicht wahr, weil nichts wahr ist, was nicht auch anders sein könnte. Was ist Traum, was ist Wirklichkeit und welches ist der größere Alb?
Auch dem dokumentarischen Blick enthüllen sich im Kurzfilm gelegentlich unerhörte Abstrusitäten. „Archen / Arken“ von Karin Karlsson und Mita Moberg (S 2004, 13 Min., 35 mm) zeigt eine seltsame „Siedlung“ hoch im Norden Schwedens, 250 km jenseits des Polarkreises. Auf dem Eis eines Sees haben Angler über den Löchern, in die sie ihre Angeln hängen, wohnliche Häuschen errichtet, mit Herd, Heizung und sogar Fernseher. Solches Containercamping ist zweifellos Frucht eines Spleens, ist aber auch die Gestalt gewordene Ruhe und Beschaulichkeit bei der meditativen Tätigkeit des Angelns. So unerhört ist dieses Kleinod, dass Karlsson un Moberg eigentlich nur die Kamera drauf halten müssen, um beim Zuschauer Schmunzeln auszulösen – bis hinein in die Sauna, die auch nicht im Eis-Camp fehlt.
Manchmal sind die im Kurzfilm geronnenen Begebenheiten und Mini-Geschichten so unerhört, dass man sie gewöhnlich gar nicht hört oder sieht. Sie sind so alltäglich, dass sie auch keine Geschichten sind. Sie sind „Invisible“ (DK 2004, 12 Min., 35 mm), so der treffende Titel des 12-Minüters von Kassandra Wellendorf. Die Kamera zoomt aus der Ferne des unsichtbaren Beobachters auf Wartende an Bushaltestellen in einer nordisch-nebligen Stadt.
Und findet eindrückliche Bilder für dieses „aus der Zeit Fallen“, wenn Wartende die Zeit totschlagen, manchmal ungeduldig auf und ab gehend, manchmal die „Auszeit“ nutzend für eine kleine Erholung im Getriebe der Großstadt. Menschen im „Dazwischen“, alltäglich, kaum erzählenswert, aber eben dadurch unerhört und sehenswert. (jm)