46. Nordische Filmtage Lübeck
„Starker Jahrgang für skandinavische Filme“ – Spielfilme bei den Nordischen Filmtagen Lübeck
„Es war ein sehr starker Jahrgang für skandinavische Filme“, resümierte zum Abschluss der 46. Nordischen Filmtage Lübeck die Leiterin des Festivals Linde Fröhlich. Dem mag der Kritiker leicht einschränkend zustimmen. Und: 134 Filme in vier Tagen für knapp 18.000 Zuschauer. Zahlen, die beeindrucken und trotz manchen „Krisengeredes“ hoffen lassen, hatte doch Friedrich-Wilhelm Kramer, Direktor des NDR-Landesfunkhauses in Kiel, in seiner Ansprache zur Eröffnung des Festivals bestätigt, dass die finanzielle Beteiligung des NDR an den Filmtagen wegen der zu gering ausgefallenen Rundfunkgebühren-Erhöhung auf dem Prüfstand stehe.
Eine ganze Reihe gutklassiger Filme schmückten den Wettbewerb von 15 Spielfilmen (siehe dazu auch die Kritiken zu „Illusive Tracks“ und „Lasset die Kinder“ in der November-Ausgabe von www.infomedia-sh.de). Und selbst solche Filme, die nicht unbedingt alle Erwartungen erfüllten, wussten zu gefallen und zu unterhalten.
Zu letzterer Kategorie gehört „Honey Baby“, ein Road Movie durch Nordosteuropa, mit dem Regisseur Mika Kaurismäki das Festival eröffnen durfte. Einen „abgerissenen“ amerikanischen Rockmusiker (Henry Thomas), der seine besten Tage schon hinter sich zu haben scheint, verschlägt es von der deutschen Ostseeküste über Kaliningrad (Königsberg), das Baltikum und St. Petersburg bis nach Murmansk. Anfänglich wird er von seinem Manager nur auf ein paar Konzerte in den baltischen Raum geschickt. Doch schon in dem vom Film wunderbar öde und zugleich zukunftsträchtig brodelnd dargestellten dunklen Kaliningrad gerät er an die vor ihrem mafiosen Bräutigam fliehende Russin Natascha (Irina Björklund), die es in ihrer raffinierten Hilflosigkeit versteht, ihn an sich zu binden. Gemeinsam „irren“ sie in einem odysseegleichen Trip durch einen anarchisch wirkenden Osten, dessen Kälte nur naive Unschuld und der Glaube an das Wunder der Liebe trotzen können.
Der Film lässt sich und seine Protagonisten treiben und versucht so erfolgreich an östlicher Atmosphäre zu partizipieren. Leicht fragmentarisch reiht er seine Episoden aneinander. Vieles lebt von Zufall und Spontaneität. Immer wenn seine Protagonisten bestimmte „Dinge“ für den Fortgang der Handlung brauchen, bekommen sie diese, ohne dass nach Logik oder Schlüssigkeit des Drehbuchs gefragt wird. Wen das nicht stört, der kann bei den attraktiven Hauptdarstellern und ihrer musikalischen Reise in eine traurige Vereinigung kurzweilige Kinostunden finden.
Weitaus fundierter als Kaurismäki entwickelt Reza Bagher (Regie) in „Populärmusik aus Vittula“ seinen gesellschaftlichen Minikosmos in der nordschwedischen Provinz der 60er Jahre. Nach dem gleichnamigen Bestseller von Mikael Niemi (über 500.000 verkaufte Exemplare allein in Schweden) zeichnet der Film ein Sittengemälde der finnisch sprechenden Minderheit in Schweden und entwirft zugleich ein wunderbares Psychogramm einer Freundschaft zweier Jungen und ihres sozialen Umfeldes. Matti (Niklas Ulfvarson als 7-jähriger und Max Enderfors als 15-jähriger) und sein schweigsamer Freund Niila (Tomy Vallikari als 7-jähriger und Andreas af Enehielm als 15-jähriger), der auf den ersten Eindruck zumindest verhaltensgestört wirkt, bis der Zuschauer seine Schutzmechanismen und Fantasieauswürfe einzuordnen weiß, müssen sich in einer für uns befremdlichen Welt behaupten. Zwischen harten Trinkern und illegalen Schnapsbrennern (man bekommt eine sinnliche Vorstellung davon, was der Ausdruck „Wodka-Gürtel“ bedeutet), zwischen Mattis kommunistischem Großvater und der christlich-fundamentalistischen Laestadianer-Sekte leben sie in einer merkwürdigen ländlichen Idylle, die von der zivilisierten Welt jenseits des Dorflebens kaum etwas zu wissen scheint. Wobei die ganze Geschichte durch väterliche Prügelstrafen bisweilen tragische Züge für Niila und seine Brüder annimmt. Nur eine Schallplatte von Elvis Presley scheint die Möglichkeit einer Rebellion anzudeuten.
Folgerichtig werden die beiden Jungen erst aus ihrem „Dornröschenschlaf“ gerissen, als eines Tages der Musiklehrer Greger aus dem Süden auftaucht und ihnen das Gitarre Spielen beibringt. Zusammen mit zwei anderen Gleichgesinnten gründen sie eine Band und suchen unbeirrt ihre Emanzipation von dörflicher Enge und tradierten Zwängen. So vereint diese Geschichte des Erwachsenwerdens in der Provinz Trauer, zwingenden Humor, Selbstbefreiung und Abschied von der Kindheit auf kongeniale Art und Weise.
„Brüder“, der neue Film von Susanne Bier (zuletzt vor zwei Jahren mit dem Dogma-Film „Open hearts“ in Lübeck), der zuvor schon in San Sebastian und beim Hamburger Filmfest im Wettbewerb lief und bei beiden Festivals mit Hauptpreisen ausgezeichnet wurde, konnte aus diesem Grunde nicht im Lübecker Wettbewerb präsentiert werden, sondern lief hier nur in der Nebenreihe „Previews & Reviews“. Wenn man den Film gesehen hat, kann man es für Lübeck nur bedauern, das er nicht die Hauptsektion der Filmtage zieren durfte. Susanne Bier erzählt in eher stillen Bildern und fast gelassenem Tempo die dramatische Geschichte zweier ungleicher Brüder. Michael (Ulrich Thomson), der eine glückliche Vorzeige-Ehe führt und auch sonst alle Ingredienzien eines erfolgreichen Lebens vorweisen kann, wird als UNO-Offizier nach Afghanistan entsandt. Kurz vor seiner Abreise in den Orient holt er noch seinen Bruder Jannik (Nikolaj Lie Kaas) aus dem Gefängnis ab, wo dieser gerade als glückloser Kleinkrimineller eine Haftstrafe verbüßt hat. In dessen Konflikt mit dem Vater manifestiert der Film noch einmal einleitend Janniks Rolle als schwarzes Schaf der Familie.
Doch dann erfährt der Film seine 180-Grad-Wende. Michael wird bei einem Hubschraubereinsatz in den Bergen Afghanistans von den Rebellen abgeschossen und gefangen genommen. Da kein Lebenszeichen von ihm nach außen dringt, erklärt man ihn nach einiger Zeit für tot. Jannik nutzt seine Chance auf Rehabilitierung daheim. Als vermeintlicher Taugenichts übernimmt der Schwager Verantwortung und kümmert sich fürsorglich um die „Witwe“ Sarah (Connie Nielsen) und ihre Tochter. Der Versuchung einer Affäre mit Michaels Frau aber erliegt er nicht. Michael wird kurz nach einem schrecklichen Vorfall mit tödlichem Ausgang aus der Gefangenschaft befreit und kehrt völlig traumatisiert zu seiner Familie zurück. Aus ihm wird eine „tickende Zeitbombe“: Das Verstecken der seelischen Verwundung führt unweigerlich in die Katastrophe, in der sich sein Bruder Jannik zu bewähren hat und auch Michaels Ehefrau vor eine schwere Probe gestellt wird. Eindringlich wird die gegenläufige Entwicklung zweier grundverschiedener Brüder (anfangs in paralleler Handlungsführung) von der Regisseurin protokolliert, wobei das mörderische Erlebnis von Michael in Afghanistan an die Grenzen menschlicher Existenz führt. Die Verdrängung dieses Albtraums durch ihn birgt die Basis für die seelische Selbstzerstörung in sich, die nun fast unabänderlich folgt. Susanne Bier bezeugt mit ihrem „ruhigen Realismus“ meisterhaft Gefährdung und Brüchigkeit von bürgerlicher Existenz in einer Welt zwischen Erbarmungslosigkeit und Hoffnung. (Helmut Schulzeck)