46. Nordische Filmtage Lübeck

Stefan Jarl Masterclass – ein Bericht

„Art is a Lie to Tell the Truth“

Auf dieses Zitat von Picasso beruft sich Stefan Jarl am Ende seiner Masterclass, die dankenswerterweise im Rahmen der Nordischen Filmtage von der AGDOK, unterstützt von der MSH, veranstaltet wurde. Im Laufe des Freitagnachmittags verrät uns Jarl viel über seine filmische Herkunft, seine Methoden und das Ziel seiner Arbeit. Picassos Worte summieren die Überzeugungen und das Werk eines Vertreters der „Creative Documentary“ und politischen Dokumentarfilmers.

Der 62-jährige Jarl, siebenfach Berlinale-erprobt und Gast vieler internationaler Festivals, hat nach einer kurzen Einleitung den Ablauf dieser Masterclass fest im Griff. Die Übergänge kaum merklich, hat sein Vortrag eine klare Struktur: seine Anfänge als Dokumentarfilmer, seine Vorbilder und ihr filmhistorischer Kontext, Beispiele der eigenen Arbeit sowie seine Produktionsweise.

Stefan Jarl

Schon mit 11 Jahren leiht sich Jarl die väterliche 8 mm-Film- und Fotoausrüstung und sammelt seine ersten Erfahrungen mit dem Medium. Der naturinteressierte Jarl wird auf die Arbeiten des Oscar-prämierten schwedischen Dokumentarfilmers Arne Sucksdorff aufmerksam. Als dieser in der Nähe von Jarls Heimatort 1959 mit Dreharbeiten beginnt, klopft Jarl an und bietet ihm seine Dienste an. Amüsant erzählt Jarl von seiner ersten eigenen Filmarbeit. Sucksdorff verlässt nach der Vorführung den Raum mit den Worten „How can you show this shit to me?“, gibt seinen Schülern aber neues Filmmaterial, um das Ergebnis zu verbessern. Jarl betrachtet diese Zeit als seine eigentliche Filmschule.

Robert Flaherty und Arne Sucksdorff sind die Fixsterne, an denen sich Jarl bis heute orientiert. Diese alten Meister der Creative Documentary setzten alle filmischen Mittel ein, um dem Zuschauer ihr Thema und ihre Ansicht zu vermitteln. Jarl distanziert sich bewusst vom Cinema Verité und dem Ansatz, als Filmemacher Objektivität zu wahren. „Everything is allowed. You have to use every tool to get your opinion across, to get the audience to see with your (the filmmakers) eyes“, formuliert Jarl sein Credo.

Gerne wird das filmischen Schaffen Jarls in politische und Naturfilme unterschieden. Doch Jarl selbst sieht diese Trennung nicht, alle seine Filme seien politisch. Ethisch sieht sich Jarl in der Tradition der europäischen Resistance. Ihm geht es um die Darstellung von Macht(miss)verhältnissen und den daraus resultierende Probleme in der Gesellschaft in der Absicht, diese ein stückweit zu ändern. Dieses vielleicht allgemeine Selbstverständnis eines Dokumentarfilmers ist bei Jarl sehr kämpferisch ausgeprägt. Schon einer seiner frühen Filme, „Sie nennen uns Mods“ (1969), zeichnet sich durch einen ungewöhnlichen und radikalen filmischen Ansatz aus. Die Darstellung schwedischer Drop Out Kids Ende der 60er überrascht durch das Aussparen einer moralischen Wertung des Lebensstils zwischen Hippietum und öffentlichem Drogenmissbrauch. Stattdessen überließ Jarl seinen Protagonisten das Wort. Alltagsszenen stellte er mit seinen Protagonisten nach. Der Film war für Jarl der Durchbruch, seine Fortsetzung „Ein anständiges Leben“ wurde 1979 zum erfolgreichsten Film in Schweden und von vielen Kritikern für einen der besten und wichtigsten schwedischen Filmen der 70er Jahre gehalten.

Jarl formuliert im Laufe der Masterclass einige Regeln, die Essenz seiner praktischen Erfahrungen. Eindringlich wiederholt er seine „rules“, keine Neuigkeiten für freie Filmemacher, aber sicher tröstend, sie von einem erfolgreichen „alten Hasen“ bestätigt zu sehen. Fehlendes Geld, auch bei Jarl an der Tagesordnung, solle man nicht als Hindernis akzeptieren. „The less money you have, the better your film might get.“ Geradezu abenteuerlich mutet Jarls „Robin-Hood-Technique“ an, für die ihm ein humorvoller Kulturminister ein lebenslanges „Stipendium“ verlieh, als er in den Print Medien darüber las: Fördergremien schreibt er ein Wunschskript, das er dann ohne mit der Wimper zu zucken kippt. So realisierte er mit einem Spielfilmetat lieber zwei Dokumentarfilme. Nur konsequent, denn Jarl sieht ohnedies keine Grenze zwischen fiktionalem und dokumentarischem Stoff.

Als ob knappe Finanzen nicht schon genug Einschränkung bedeuten, fordert Jarl auf, sich den filmischen Prozess durch selbst auferlegte Regeln zu erschweren und stets nach ungewöhnlichen Perspektiven zu suchen. Ein Ansatz, den uns im letzten Jahr Lars von Trier und Jorge Leth in ihrer Koproduktion „The Five Obstructions“ vorexerzierten. Mehr verbindet ihn mit von Trier aber nach Jarls Bekunden nicht, dem Dogma 95 Manifest erteilt Jarl eine Absage, hält er es doch für reines Marketing.

Entscheidend für das Gelingen eines Dokumentarfilms ist laut Jarl das positive Verhältnis zwischen Filmemacher und Protagonisten. Ist die Brücke geschlagen, öffnet sich eine Schatztruhe vor der Kamera. Folgerichtig verwirft Jarl sein Skript auch sofort und „entdeckt den Film im gedrehten Material“. Das Pitching-System verurteilt Jarl und amüsiert sich anekdotenreich über erfolgreiche Kollegen, die ihre Kreativität in nicht enden wollenden Pitchings zu verlieren drohen.

Jarl muss sich jeden Tag fordern, deshalb hat er es sich zur Regel gemacht, täglich ein gutes Bild zu machen. Ein visuelles Reservoir aus dem er später schöpft. Schwedens Dokumentarfilm-Legende beschließt die Masterclass mit einem Apell an die anwesenden Filmemacher: „Find a way to make a picture every day. Try to make your film without any money. Stop being afraid of things. Go home and do a movie tonight!“ (dakro)

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