8. Filmfest Schleswig-Holstein Augenweide

Don’t cut!?

Beobachtungen und Tendenzen beim 8. Filmfest Schleswig-Holstein Augenweide

Als Alfred Hitchcock in seinem Kammerspiel „Cocktail für eine Leiche“ („Rope“) knapp 90 Minuten Film (fast) ohne Schnitt vorlegte, war das eine filmische Sensation – auch wenn Hitchcocks Kameramann die Rollenenden durch geschickte Schwenks über das Objektiv verdeckendes Dekor getarnt hatte. Das war 1948. Jetzt kehrt die Methode, auf den Schnitt als zentrales Medium filmischer Narrationsstruktur zu verzichten, wieder – unter anderen Vorzeichen und als beim 8. Filmfest Schleswig-Holstein Augenweide mehrfach zu beobachtender „Hyper-Dokumentarismus“.

Bernd Fiedler ließ schon 1968 eine 16mm-Rolle schnittlos durchlaufen. „21.10.68, ca. 15 Uhr“ beschriftete er die Rolle, auf der „die Inszenierung absolut keine Rolle spielen“ sollte. Fiedler engagierte ein Model, das eine Berliner Straße entlang lief, begleitet von der Kamera. Und der Zufall der Natur schenkte ihm eine Dramaturgie. Die Frau entdeckt am Wegesrand ein Kind, das einen sterbenden Vogel betrachtet und betrauert. Passanten treten hinzu. Was tun mit dem Vogel, der sich im nahenden Exitus auf die bergende Hand der Frau erbricht? Ein Tempotaschentuch muss her. Und ein gnädiger Mörder, der mit einem Stockhieb dem Leiden der Kreatur ein Ende bereitet. Den „Plot“ so zu Ende gebracht, läuft die Frau weiter durch die Berliner Straße, wie abgesprochen und bis zum Ende der Filmrolle. „DRANA – drama naturale“ nennt Fiedler solche Geschichten, die das Leben ohne Drehbuch schreibt, die sich ereignen, wo der Filmer mit der Kamera nur „draufhalten“ muss, um sie auf Zelluloid zu ernten. Und widmet der Methode ein Manifest, das er – als Ratschlag zur Erneuerung des Dokumentarischen – bei Augenweide flugblätternd verteilen lässt.

Ein Glücksfall, wahrlich. Wer sonst „draufhält“ und allenfalls noch schwenkt und fährt wie die Kamera in Sergei Loznitsas „Landschaft“, fängt das Nicht-Ereignis ein, im schlimmsten Fall Belangloses, im besten Fall, weil nichts belanglos ist, was sich ereignet, einen Film, der immer noch vorgibt, er habe etwas zu erzählen.

Film ist nicht Foto, nicht Stillleben, Film hat etwas mit Drama und damit – ganz oldschoolig aristotelisch verstanden – mit Handlung zu tun. Der Dokumentarfilm-Preisträger „Nome Road System“ sucht die im Standbild, im Verweilen am Wegesrand der Nome Road, die durch Alaska führt. Dort ist die Einöde, das Stillstehen aller Handlungen sozusagen natürliches Programm. Und doch ereignen sich Mini-Geschichten, Handlungsresiduen wie das kontemplative Goldwaschen (wo es längst keine fetten Nuggets mehr gibt) oder die liebende Geste eines sich im Badezuber unter freiem Himmel den Rücken schrubbenden Paares. Derlei wäre im Foto genauso einzufangen wie im bewegten Foto namens Film. Rainer Komers schneidet nicht dramaturgisch, nur reihend. Stillleben folgt auf Stillleben und die Bewegung in den Stills ist nur marginal bewegt, dennoch und gerade durch den ostentativen Stillstand bewegend.

Ähnlich geht Katja Frederiksens „Sommerhitze“ zu Werke. Obwohl nicht Dokument, wo man es verzeihen könnte, sondern (Nicht-) Spielfilm – das Sommerhitzige besteht darin, dass nichts passiert in der Wüstenrot-Wüste einer Eigenheim-Vorstadt. Ja, es wird gegrillt, ja, es wird pubertiert. Und dennoch scheint alles so bedrückend handlungsarm erstarrt wie Alaskas eisige Straßenränder. Fast schon als Karikatur eines Drehbuchs werden Fährten gelegt. Die jugendlichen Protagonisten Hanna und Jörg zündeln – durch Matchcut verbunden – gleichzeitig an Votivkerze und Feuerzeug, doch am Ende des Kurzstreifens stoßen nicht sie, sondern bloß ihre Fahrräder zusammen. Ergebnislos. Der Abspann als Zeitfenster zum Nachdenken darüber, was „währenddessen“ geschah?

Erzählungsverweigerung könnte man derlei nennen. Oder Hoffnung, dass sich Geschichten, der Stoff, aus dem die Filme sind, einfach von selbst erzählen mögen, wenn nur eine Kamera auf sie gerichtet ist. Janne Höltermann hat in der spanischen Provinz eine Hotel-Neubau-Ruine entdeckt. Die sieht schön aus, ist pittoresk, Stoff für eine reduktionistische Fotoarbeit. Aber sie macht einen Film daraus, „Ciempozuelos“. Denn, so hat die Filmemacherin, die sich im Interview nach der Filmvorführung als „eigentlich Video-Installateurin“ bekennt, entdeckt: Bewegend am Betongerippe sind die Menschen (und nistenden Schwalben), die es in Besitz nehmen und so unweigerlich mit zu dokumentierender Handlung füllen, Liebesnesteln, Grillen … Höltermann hält drauf, gewissermaßen erbarmungslos, wie Kunst nunmal ist.

Im Dokumentarfilm macht sich Sparsamkeit breit, so scheint es. Wie in der Physik, wo der Beobachter fürchtet, dass seine Beobachtung das Beobachtete zu sehr beeinflusst. Eine Art Unschärferelation, man kann entweder die Geschwindigkeit (Bewegung) genau definieren oder den Ort (Stillleben), nie aber beides. Karsten Wiesels „Posten 50“, das Porträt eines Bahnübergangsstreckenhäuschens samt Wärter in der ganz alaskanischen Einöde Thüringens, filmt sich bewegende Züge, schlägt den rotweiß-gestreiften Schlagbaum der Schranke immer wieder durch den Bildkader und bekennt damit die eigene Unbeteiligtheit so deutlich, dass die Einlassungen des Schrankenwärters über Urknall und Sinn des Lebens unfreiwillig (un-) komisch wirken. Mit der Kamera auf Posten, wartend auf das Nichts eines vorbei fahrenden Zugs (dem brav nachgeschwenkt wird), das allgegenwärtiger ist als Geschichten.

Eine Betrachterin entäußerte sich beim Wodka in der Pumpenkneipe stöhnend: „Ist es so schwer, einfach nur Geschichten zu erzählen?“ Vielleicht ist das so schwer in Zeiten, wo Bilder anzweifelbar sind, gerade auch Filmbilder. Sind die Folter-Doku-Strips aus amerikanischen Kriegsgefangenengefängnissen im Irak, die man sich im Internet auf politisch bewegten Menschenrechtsseiten herunterladen kann, echt? Dass etwas ein Fake sei, wird zum Instrument politischer Machenschaften, das Dokument, zumal das filmische, zweifelhaft. Wo sich das US-Friedensengel-Establishment brüstet, alles sei zwar echt, aber eben doch nicht, weil die Dinge „komplizierter“ seien als hier abgefilmt, geraten die bewegten Bilder in den Ruch der Lüge. Vor allem, wenn sie organisiert sind durch Schnitte, durch die Cuts der Dramaturgie.

Wo Drama ist, kann Wirklichkeit unter Umständen nicht mehr sein. Oder ist Wirklichkeit nur kenntlich, wenn man sie dramatisiert, in Handlung gießt, wenn der Cutter „Matches“ macht statt „Mores“? Ein Zweifel geht durchs Filmland, ein Zweifel an der Wirklichkeit des Abgefilmten, mehr noch ein Zweifel an seiner nachträglichen Organisation durch Schnitt, durch jenes Mittel, das Wirklichkeit (im Film) organisiert.

Und doch: Film ist wie jede Kunst immer auch die Schaffung einer Wirklichkeit. Kritisch wird die dann, wenn sie sich gegen das Bestehende als Gegenbild richtet. Manchmal muss man das rabiat machen – wie in Nina Heinzels geheimnisraunend mit Realität und Fake spielendem „Das glückliche Ende des Fernsehens“.

Heinzel hält die Kamera auf Freaks, die den bilderflutenden Apparat meiden, die ihn aus dem Fenster geworfen haben oder bei einem Umzug schlicht nicht wieder angeschlossen. Dass unter den Porträtierten selbst ein Medientheoretiker wie der Kieler Muthesius-Hochschul-Professor Dieter Mersch ist, macht die im Medium inszenierte Abwendung vom Medium umso interessanter. Wenn sich das Medium selbst ad absurdum führt, ist es am schönsten. Und am medialsten. Da ist der Schnitt der Cut, der Brüche schafft, weil er Unverbundenheit und Ungeborgenheit aufzeigt. Vielleicht besteht darin die Hoffnung für das Dokumentarische, dass es sein Wirklichkeitspotenzial verwirklicht, indem es Wirklichkeit negiert. Insofern: Don’t cut statt Matchcut, laufen lassen, bis die Rollen durch und durch sind. (jm)

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