54. Internationale Filmfestspiele Berlin

Das Schicksal (nicht) in den Händen

Forbrydelser (In deinen Händen) (Annette K. Olesen, DK 2003)

In wessen Händen liegt das Schicksal? Eine ungewöhnlich transzendente Frage für einen Dogma-Film, der sich um eine Gefängnis-Pastorin dreht. Die Theologin Anna (Ann Eleonara Jørgensen) hat die schwierige Aufgabe, Seelsorgerin in einem Frauengefängnis zu sein, bewusst angenommen – als berufliche Herausforderung, aber auch in einer gewissen Demut für ihren Auftrag als Pastorin und gegenüber dem „Schicksal“, keine Kinder bekommen zu können. Im Gefängnis begegnet sie der harten Wirklichkeit aus Drogen und zerstörten Existenzen. Besonders fällt ihr Kate auf, die sich über ihre Vergangenheit und den Grund ihrer Inhaftierung ausschweigt. Die Mitgefangenen munkeln, sie habe ihr Kind getötet – und sagen ihren Händen magische Kräfte nach. Namentlich Marion fühlt sich durch Kates Handauflegungen von ihrer Drogensucht befreit, während Jossi, die Dealerin im Frauentrakt, von Kate ihre Geschäfte bedroht sieht.

Zwischen Wunderglauben und Neuem Testament: Sonja Richter und Ann Eleonara Jørgensen

Anna steht dem Wunderglauben skeptisch gegenüber, zumal als Pastorin. Aber plötzlich erfährt sie, dass sie doch schwanger ist – ein Wunder Kates, denn die hat das schon vor dem Schwangerschaftstest gewusst? Doch die Schwangerschaft verläuft nicht glücklich, Anna wird eröffnet, dass sie möglicherweise ein schwerst behindertes Kind zur Welt bringen wird. Wie soll sie sich entscheiden? Auf Gottes Güte vertrauen, auf die Ärzte? Oder auf Kates heilende Hände?

Annette K. Olesen („Kleine Missgeschicke“) spielt virtuos mit diesen Fragen ihrer Figuren und mit der grundsätzlichen Verstrickung des Menschen in Schuld, Sündenfall und Erlösung. Die Erlösung kann aus der Sünde folgen und umgekehrt. Nicht nur die Welt, auch die göttliche Ordnung ist aus den Fugen. Olesen hat den Film mit zahlreichen mythologischen und biblischen Zitaten gespickt. Wir begegnen Pyramus und Thisbe, die durch einen Spalt in der Wand miteinander sprechen (Anna und ihr Mann Frank), der Medea-Mythos tritt immer wieder versteckt auf den Plan und nicht zuletzt die Opposition zwischen Altem und Neuem Testament, zwischen dem unerbittlich (aber damit auch berechenbar) strafenden Gott und dem liebevoll vergebenden. Auch solche Zitate sind ungewöhnlich für einen Dogma-Film, überwinden die Kühle des dokumentarischen Blicks in die Seelenabgründe.

Gleichzeitig ist der Film ein unbedingtes Plädoyer für das Vertrauen unter den Menschen statt auf eine höhere Ordnung oder schicksalhafte Fügungen. Deutlich wird dies an einer kleinen Nebenhandlung: Ein Gefängniswärter verliebt sich in Kate, als er sie bei ihren Freigängen als Bewacher begleitet. Für Kate ist das die erste wirkliche Zuwendung, die nicht aus der Legende um ihre heilenden Hände oder der Ablehnung ihrer Tat erwächst, sondern sie als Mensch, nicht als heilige Kindsmörderin akzeptiert. Haben beide ihr Schicksal plötzlich doch in den Händen? Oder hat man am Ende nichts in den Händen, weil es kein Schicksal gibt, sondern nur Wendungen und Fährnisse des Lebens?

Olesen stellt Fragen, meidet die Antworten, die jeder selber finden muss. Und sei es so resignativ und doch offen hoffnungsvoll, wie der Film endet: „Lass es uns hinter uns bringen!“ sagt Anna zu Frank auf dem Weg zur Abtreibung in den Operationssaal … (jm)

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