54. Internationale Filmfestspiele Berlin
Berlinale 2004: Ein persönlicher Blick auf den Wettbwerb
Das Programm der Berlinale 2004 ist im Vergleich zum Vorjahr, wenn man die Zahl der Filme heranzieht, angewachsen. Rund 400 Filme buhlten in zehn Sektionen um die Gunst des kino-nimmermüden Publikums. Unter Qualitätsmaßstäben hingegen war es eher ein mittelmäßiges Festivaljahr, wenn eine solche Verallgemeinerung bei der Vielfalt der Programme überhaupt statthaft ist. Nachdem der Wettbewerb im vorigen Jahr mit einen großen Starreigen von „Besuchern“ aus Hollywood schier verwöhnt wurde, musste er sich dieses Jahr mit weniger bescheiden. Jack Nicholson sprühte vor Charme und witziger Ironie, die spätere Oscar-Gewinnerin Charlize Thereon bezauberte mit ihrem Lächeln und eine völlig indisponierte Diane Keaton machte einen bisweilen dummen Eindruck, auch Renée Zellweger beglückte, wenn auch verspätet, das Festival. Die großen amerikanischen Highlights, sieht man einmal von Patty Jenkins „Monster“ ab, hatten schon vor der Berlinale ihren Europa-Start oder wurden von ihren Produzenten für Cannes aufgespart.
Obwohl pures Kunsthandwerk der simplen Art, konnte mich der Eröffnungsfilm „Cold Mountain“ nicht enttäuschen, eher im Gegenteil. Nachdem ich mich vor einigen Jahren im Zoopalast bei der Wettbewerbsvorstellung von Minghellas „Der Englische Patient“ entsetzlich gelangweilt hatte und später durch dessen Oscar-Gewinne unangenehm überrascht wurde, hegte ich keine großen Erwartungen. Und so amüsierte mich hier Renée Zwellweger eher mit ihrer herrlich barschen Art und ihrem wunderbar übertriebenen Südstaatenakzent in ihrer großen Nebenrolle als Gefährtin von Ada (Nicole Kidman), welche treu fast den ganzen Film auf ihren Geliebten Imman (Jude Law) wartet, um ihn dann alsbald endgültig zu verlieren. Auch die Bürgerkriegsszene am Anfang des Films nötigt einem Achtung ab, weil sie in Ausstattung und Inszenierung Maßstäbe setzt. Ansonsten spult der Film brav seine vorhersehbare Geschichte einer Liebe ab, die stärker ist als Krieg und alles Leid. Verwunderung nötigt er einem allenfalls noch bei einigen Schlampereien im Drehbuch ab, die bei einer so teuren Hollywood-Produktion nicht vorkommen sollten. Da gehen doch die beiden Hauptfiguren-Mädels im kalten Winter mitten im Wald auf die Jagd und bekommen gleich mir nix dir nix zwei prächtige Truthähne vor die Flinte, quasi direkt von der Mast aufs Set gestellt. Ein anders Beispiel: Als sich dem erschöpften über 500 Meilen zu Fuß heimwärts strebenden Imman ein Pferd „anbietet“, scheint er dieses gar nicht zu sehen und schleppt sich anstatt dessen lieber zu Fuß weiter.
Drehbuch mit Schwächen: Jude Law, Nicole Kidman und Donald Sutherland in „Cold Mountain“
Mehr verärgerte einen über weite Strecken die Indianer-Räuberpistole „The Missing“. Ein grausames „Indianer-Märchen“ versucht dem Zuschauer die Ideologie der Vorväter von John Ford als Realismus zu verkaufen, dass sich dem Betrachter die Nackenhaare sträuben. Genüsslich wird in aller Ausführlichkeit Spannung mit Greul garniert.
Indianer-Märchen oder Realismus? Cate Blanchett und Tommy Lee Jones in „The Missing“
Auch „The Final Cut“ mit Robin Williams hinterließ einen zwiespältigen Eindruck. Ein vor der Geburt ins Hirn gesetzter Chip zeichnet das ganze Leben des jeweiligen Trägers auf. Nach dessen Tod entscheiden seine Angehörigen welche Gedächtnisversion ein Cutter aus diesem Material schneidet. Der Plot böte alle Möglichkeiten zu einem eindringlichen Film, doch leider verschenkt ihn Regisseur Omar Naim in seiner Geschichte und nutzt sie letztlich nur zur sentimentalen Aufklärung der Vergangenheit seines Hauptcharakters.
Verpasste Chance: Robin Williams in „The Final Cut“
„Beautiful Country“ des norwegischen Regisseurs Hans Petter Moland (eine Produktion von Terrence Malick, der 1999 auf der Berlinale als Regisseur mit „The Thin Red Line“ begeisterte und in der heurigen Retro „New Hollywood“ mit dem beeindruckend stark fotografierten Film „Days of Heaven“ von 1978 vertreten war) erzählt sensibel die Geschichte eines jungen Vietnamesen, der sich auf die Suche nach seinem amerikanischen Vater macht, der ihn und seine Mutter verlassen hat, als der Vietnamese noch ein Kleinkind war. Armut und Elend in Vietnam, Mutterliebe, Solidarität und Liebe Flüchtlingsinternierungscamp in Malaysia, Dahinvegetieren und Kampf bei der Ozeanquerung auf einem rostigen „Seelenverkäufer“, Leben als illegaler Immigrant in New York. Das sind die Stationen des Protagonisten, der sich bei aller Not, Bedrängnis und scheinbaren Hoffnungslosigkeit immer seine Würde zu bewahren weiß. Am Ende schafft er es schließlich seinen Vater zu finden. Dass der Film in seinen letzten Szenen nicht in rührseligen Kitsch abgleitet, bestätigt die Qualität, die die Inszenierung der gesamten Geschichte auszeichnet. Die Vermutung vom positiven, das Sentiment mäßigenden europäischen Einfluss auf die amerikanische Produktion liegt nahe.
Mit „El abrazo partido“ von Daniel Burman meint man auf den ersten Blick eher einen in Südamerika gedrehten israelischen Film als einen argentischen zu sehen, hört aber dann von der relativ großen jüdischen Gemeinde in Buenos Aires und scheint so diesen Film eher zu verstehen. Der jüdische Mikrokosmos eines heruntergekommenen Shopping Centers in Buenos Aires bietet den Schauplatz für diese Tragikomödie. Refugium für die Alten, ist er ein Ort, dem die Jungen eher entkommen möchten. Familiengeschichten: verschroben, schrullig, komisch – typisch jüdisch. Ein Film der Vergnügen bereitete.
Jüdischer Charme: Adriana Aizemberg und Daniel Hendler in „El abrazo partido“
In „Confidences trop intimes“ („Intimste Freunde“), einer kammerspielartigen Komödie von Patrice Leconte, wusste Sandrine Bonnaire als scheinbar hilflose Frau mit Eheproblemen zu bezaubern. Aufgrund einer Verwechslung landet sie anstatt in der Praxis eines Psychologen im Büro des Steuerberaters (Fabrici Luchini) gleich nebenan. Dieser etwas verschrobene Sonderling klärt den Irrtum seiner Klientin nicht sogleich auf, sondern belässt sie für eine geraume Weile in dem Irrglauben, der Psychologe zu sein, und holt sich sogar noch psychologischen Rat von seinem Praxisnachbarn für die „Behandlung“. Als nach einer Weile der Irrtum aufgeklärt wird, spielen beide Protagonisten ihre Rollen jedoch weiter. Ihre Verabredungen werden zu einem sonderbaren Ritual, in dessen Verlauf die Frau Geheimnisse offenbart, die sie nie zuvor preisgegeben hat. Das Leben beider wird in den Gesprächen immer mehr in Frage gestellt. Das Resultat: eine Pschychologie der Zweisamkeit in einer intelligenten Unterhaltung der französischen Art.
Quasi auf der Couch: Sandrine Bonnaire in „Confidences trop intimes“
Kraftvolles Kino brachte Fatih Akins Film „Gegen die Wand“ auf die Leinwand. Die fatale Geschichte zweier Menschen, deren leidvoller Weg von verantwortungsloser Freiheit zu Betroffenheit, Liebe und Trennung führt, beeindruckte die Presse schon bei der ersten Vorführung im Berlinale-Palast so, dass es beim Eintreffen der Beteiligten auf der Pressekonferenz fünf Minuten ovationsartigen Beifall gab. Ein seltenes Ereignis ebenso wie das schiere Unverständnis, das Regisseur Romuald Karmarkar bei Vorführung und anschließender Pressekonferenz zu seinem Wettbewerbsfilm „Die Nacht singt ihre Lieder“ entgegenschlug. Das war nur noch zu übertreffen von seiner geäußerten Reaktion darauf, dass diejenigen, die seinen Film nicht verstünden, eben keine Ahnung von Film hätten. Ich hatte mir das „Trauerspiel“ über Kommunikationsarmut und Paartrennung nach der Kurzlektüre des Inhaltes erspart: „Drama um ein in Berlin Mitte lebendes Paar, das sich im Verlauf eines Tages und einer Nacht mit Worten zerfleischt.“ (aus: „Minitip, Berlinale komplett“). Das erinnerte doch verdammt stark an Oskar Röhlers letztjährliche Wettbewerbszumutung „Der alte Affe Angst“. Und so etwas wollte ich mir nicht noch einmal antun. (Helmut Schulzeck)