54. Internationale Filmfestspiele Berlin
Vor Sonnenaufgang in Wien, vor Sonnenuntergang in Paris
Before Sunset (Richard Linklater, USA 2003)
Zugegeben, für „Before Sunset“ von Richard Linklater muss man schon ein wenig romantisch veranlagt sein. Sonst hat man wohl nichts von diesem 88minütigen Wiedersehen von Jesse und Céline. Und zuhören muss man können, schließlich reden sie die ganze Zeit … Wenn man den Vorgängerfilm „Before Sunrise“ gern gesehen hat, ist man wohl allemal neugierig auf die beiden, wie sie sich äußerlich und innerlich gewandelt haben mögen. Und tatsächlich, auch Hollywood schützt vor Denkerfalten nicht, wie man an Jesse (Ethan Hawke) deutlich sieht, den man im „Club der Toten Dichter“ ja schon als zarten Teenager erlebt hat. Céline (Julie Delpy) hat etwas von ihrer Pausbäckigkeit in den 90er-Jahren zurück gelassen und betritt schmal, mit hochgesteckten Haaren und sichtlich gereift die Szenerie. Kaum zu glauben, neun Jahre sind vergangen, für Delpy, Hawke, Linklater und auch den Zuschauer …
Jesse, inzwischen Schriftsteller, hält in der Pariser Buchhandlung „Shakespeare & Company“ eine Lesung seines Romans ab, in dem er nicht von ungefähr die Begegnung mit Céline neun Jahre zuvor im sommerlichen Wien verarbeitet hat. Er war damals auf Interrail-Tour und verbrachte mit Céline, die er zufällig kennen- und in der Kürze der Zeit auch lieben lernte, fast einen ganzen Tag bis zur Abfahrt ihres Zuges im Morgengrauen. Ein halbes Jahr später wollten sie sich wiedertreffen; so etwas Profanes wie Telefonnummern und Adressen (man merke auf: von E-Mail-Adressen war 1994 noch nicht die Rede) tauschten sie gar nicht erst aus.
Die bei Jesses Lesung anwesenden Journalisten sind – wie natürlich der Zuschauer – überaus neugierig darauf, ob das Wiedersehen dann auch stattgefunden hat. Und siehe da, Jesse will nichts verraten – zweifellos ein Indiz, dass ihm das Thema auch heute noch zu schaffen macht. Während Jesse noch mit der Journalistin spricht, erscheint geheimnisvoll lächelnd Céline, und schon geraten die beiden in den Strudel ihrer 88-Minuten-Echtzeit-Begegnung.
Dabei ist auch dieses Mal ein unerbittliches Limit gesetzt, denn Jesse hat nur noch kurze Zeit bis zum Rückflug in die USA. Der Chauffeur hat sogar schon das Gepäck im Kofferraum. Doch Céline und Jesse lassen sich nicht beirren und spazieren zusammen durch Pariser Gassen. Paris? Allzuviel davon sieht man nicht, allenfalls ein paar Straßenecken, ein Stückchen Quai, ein Stückchen Seine – ein Rezensent meinte treffend, es hätte auch Rothenburg ob der Tauber sein können. Aber das wäre dann ja nicht die Stadt der Liebe, in der sich Céline und Jesse wiedersehen – wieder ein symbolischer Grund für Hoffnung für die beiden, findet der romantisch veranlagte, zuhören könnende Zuschauer. Ach nein, Paris ist eben die letzte Station von Jesses Lesereise und Célines heutiger Wohnsitz. Sie ist inzwischen ausgebildete Politologin und Umweltaktivistin, hat die halbe Welt bereist und verbessert, und privat komponiert sie Lieder zur Gitarre. Das hat sie mit ihrer Darstellerin Julie Delpy gemein, die sich in jüngerer Zeit als Musikerin neu erfunden hat. Auch für „Before Sunset“ hat sie einige wunderbare Stücke komponiert. Hawke und Delpy sind zusammen mit Regisseur Linklater auch Verfasser des Drehbuchs. Da kann man lange rätseln, wem die genialen letzten Sequenzen eingefallen sind …
Was in „Before Sunset“ passiert, ist fesselnd, natürlich und bezaubernd. Und deshalb wünscht sich sicher mancher ein drittes Sequel – zumindest der romantisch veranlagte, zuhören könnende Zuschauer. (gls)