Nordische Filmtage Lübeck 2003
Verfall eines Erben
(Das Erbe, Arven, DK 2003, 115 Min., 35 mm, Per Fly)
Zwei Welten werden in Per Flys Film „Das Erbe“ einander gegenüber gestellt – und auch zwei Zeitalter. Christoffer (Ulrich Thomsen, „Das Fest“), Sproß einer dänischen Industriellenfamilie, frönt in Stockholm dem Bohéme-Leben. Er betreibt ein Restaurant, in dem die Künstleravantgarde ein und aus geht, und hat eine glückliche Beziehung. Doch dann stirbt sein Vater, Tycoon des Stahlkonzerns Borch-Møller, und Christoffer muss die Firma übernehmen, angetrieben von seiner strengen Mutter (in einer Paraderolle die Diva des dänischen Films, Ghita Nørby), die aus ihrem Sohn partout einen richtigen Boss machen will. Der Konzern muss saniert werden, was harte Schnitte verlangt, Entlassungen, Rationalisierungen, die gesamte Pallette der Globalisierung und ihrer Auswüchse. Mehr und mehr wird Christoffer von einem sensiblen Menschen zu einem Hardcore-Unternehmer, der keine Freunde mehr kennt, denn die Firma geht vor. Immer tiefer gerät er in einen Strudel aus Schuld, kann zwar die Firma in eine Fusion mit einem „Global Player“ retten, aber steht am Ende vor einem persönlichen Scherbenhaufen: Beziehung kaputt, Leere, Alkohol …
Vom Bohémian zum Boss: Ulrich Thomsen in „Das Erbe“
Flys Film zeichnet diesen moralischen und sozialen Verfall eines Erben vor dem Hintergrund der äußerst psychodynamischen Geschichte einer Familiendynastie. Familienbande sind hier Stricke. Es entsteht ein Gesellschaftspanorama der „oberen Zehntausend“, die mit ihren Wirtschaftstransaktionen soziale Verheerung anrichten, nicht zuletzt bei sich selbst. Die wirtschaftspolitischen Zwänge greifen direkt in das Leben auch ihrer mächtigen Macher ein, zerstören es. Die Zeit der sozial und ästhetisch bewegten 70er Jahre, zeichenhaft gezeigt in Christoffers Existenz in der Stockholmer Bohéme, sind vorbei, es kommen die härteren der Gegenwart, für die Erben der 70er folgt ein Zeitalter menschlicher Kälte, dem Fly mit erschütternder Präzision den filmischen Finger auf die Wunden legt.
„Das Erbe“ gewann in Lübeck den Förderpreis des NDR. Eine erstaunliche Jury-Entscheidung, weil es sich um etabliertes Kino handelt und daher der Förderung nicht unbedingt bedarf. Von seiner sensiblen Figurenzeichnung her hat der Film den Preis dennoch voll verdient.
(gls)