Zur Performance „Fading“ im April 2002:

Schichten des Geschichtlichen

Die Audio-Video-Performance „Fading“ will den öffentlichen Raum in bewegten Bildern und Stimmen zurückgewinnen.

Eine kleine Geschichte der kollektiven Wahrnehmung könnte so lauten: „Nachdem wir vor dem Schaufensterbild flanierten, lernten wir im Kino vor bewegten Bildern still zu sitzen, und jetzt müssen wir lernen uns vor bewegten Bildern wieder zu bewegen.“ Die Kieler Architektin Natascha Bindzus mag nichts mehr bauen, bevor der Mensch hinter dem die Sinne betäubenden Rauschen des öffentlichen Raums, dem allgegenwärtigen Handyklingeln wie dem Hämmern aus Techno-Discos, nicht mehr verschwindet. Der „Architechneton“ sei wörtlich übersetzt der „Pächter des Welttheaters“ und nicht nur der Gestaltungsgehilfe für den verwalteten Raum der postmodernen Polis. Wo die sich in nicht mehr erfahrbare Technokratie verflüchtigt, hilft nur noch „Fading“, jene geschmeidige, immer bewegte Ein-, Aus- und Überblendung der Bilder, Klänge und Geräusche.

In der audiovisuellen Performance „Fading“ von Natascha Bindzus und Holger Trülzsch (unterstützt von der Filmwerkstatt S.-H.) steht Heinrich Heine am Anfang dieses Wegs vom Stillstand zur Eigenbewegung. Auf der Leinwand pulsiert das Ultraschallbild eines Fötus, davor Heines Texte. Trülzsch rezitiert den „feuilletonistisch ironischen“ Text „Deutschland, ein Wintermärchen“, Bindzus assoziiert dazu frei aus dem „Buch der Lieder“. In der dritten Schicht der „Gleichzeitigkeit des Ungleichartigen“ schaffen Sopran (Burghilt von Studnitz) und Synthesizer (Dirk J. Wagner) eine atonale Kontrafaktur zu Schumanns romantischen Heine-Vertonungen. Die Performance will Heine als „immer noch schwärende Wunde“ zeigen. Als Verlorenen in der Gebärmutter der Moderne, heimatlos und janusköpfig zerrissen zwischen Aufklärung und Romantik, die dagegen protestiert, dass die Aufklärung „den Geist nicht befreien konnte, weil sie den Menschen nicht befreite“ (Bindzus).

Ein komplexer ästhetischer Diskurs der postmodernen Philosophen von Roland Barthes über Paul Virilio bis Guy Debord steht hinter „Fading“. Trülzsch hatte Mitte der 80er Jahre mit Bezug auf die Situationisten den öffentlichen Raum Marseilles in einer „Psychotopographie der Stadt“ fotografisch erkundet. Doch „Fotografie ist als Abbildungsmedium obsolet geworden“, meint er heute. Der Zergliederung der Wahrnehmung durch digitale Medien könne man nur mit wiederum digitaler Medienschichtung begegnen, um Geschichte als Geschichtetes erlebbar zu machen.

„La ville n’existe pas – die Stadt gibt es nicht“ heißt daher provokant der Bild-Track zum zweiten Teil der Performance. Natascha Bindzus tanzt und deklamiert live vor bewegten Bildern von Tanzenden im Techno-Trauma und des Trottoirs eines nunmehr ziellosen Flaneurs. Ihr Schatten auf der Leinwand macht das flächige Kamera-Bild räumlich. Als weitere Schicht wird die Live-Performance abgefilmt, um in einer Ausstellung in der Stadtgalerie im September wiederum als Video-Installation, „als Schatten vom Schatten“, projiziert zu werden, neben Trülzschs Fotos aus dem Marseille-Projekt. Die Spannung zwischen den Schichten des Geschichtlichen und der Medien soll so „die Suche der Wahrnehmung und des Wahrnehmenden nach einer Entsprechung im Bild“ dokumentieren. (jm)

Ausstellung „Fading – and it fades, fades, fades“

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