Leibesübungen für das Gegenwärtige
Interdisziplinäre Wochen an der Muthesius-Hochschule: Rudolf zur Lippe und Gunter Gebauer philosophierten über Gegenwart und Individuum in Sport und Kunst.
Was ist im alten Europa passiert, dass dort, anders als in den östlichen Philosophien, der Leib als Gegensatz zu Geist und Seele begriffen wird? Diese Frage stellte sich Rudolf zur Lippe, Professor für die Philosophie der Lebensformen an der Uni Witten-Herdecke, schon zu Beginn seiner Forschungen über Bewegung, Leiblichkeit und Tanz. Wie Adorno hegt auch zur Lippe einen grundsätzlichen Zweifel an der „ambivalenten Freiheitsgeschichte“ des Abendlandes. Der Entdeckung der Sinnlichkeit in der Renaissance folgte im 17. Jahrhundert die Mechanisierung, der aufklärerisch befreite Verstand geriet alsbald zum Herrschaftsinstrument über den Körper.
Das hat bis heute Spuren hinterlassen. Bewegung, so zur Lippes zentrale These, werde „zur Strecke gebracht“, indem sie rein physikalisch auf den Transport von A nach B reduziert werde. Nicht anders geht es seit Augustinus‘ Zeittheorie der Gegenwart. Sie ist Zeitpunkt ohne Ausdehnung, ein lästiger Übergang zur durchgeplanten Zukunft. Höchstens in der Selbstvergessenheit des Spiels oder der Liebe, „wo man die Zeit vergisst“, ist sie noch erlebbar als „Ewigkeit en miniature“.
Ganz dialektisch hebt zur Lippe in seinem Eröffnungsvortrag zur Tagung „Sport – Inszenierung – Ereignis – Kunst“ im Rahmen der Interdisziplinären Wochen an der Kieler Muthesius-Hochschule immer wieder auf Pole ab, Gegensätze, die einander bedingen, und ersetzt sie durch Begriffspaare, die sich am leiblich Erfahrbaren orientieren. Das Paar „aktiv – passiv“ wird zu „Bewirken – Spüren“, der Übergang von Vergangenheit zu Zukunft zum „Wandel“. Zur Lippe will so dem fortwährenden „Absaugen von Gegenwart“ und der „toten Bewegung“ (analog zu Marx‘ Begriff von „toter Arbeit“) in der modernen Mediengesellschaft entgegentreten, der „Zurichtung und Vernutzung“ des Körpers mit leiblichem Erleben entrinnen. Als Mittel dazu schwebt ihm die „Übung“ vor, sowohl eine sportliche wie auch eine künstlerische. In ihr sei der „gelingende Augenblick“ zwischen den Polen Ekstase und Askese wieder fassbar.
Rudolf zur Lippes Optimismus für eine Emanzipation von Leib und Gegenwart mag Gunter Gebauer, Sportwissenschaftler und Professor für Sozialphilosophie an der FU Berlin, nicht teilen. Insbesondere in den trendigen Extremsportarten sieht er den grandiosen Selbstbetrug der „neuen Helden“. Im klassischen Wettkampfsport versuche ein Mensch durch eine außergewöhnliche Leistung seine Einzigartigkeit herauszustellen. „Der Athlet ist Autor seiner selbst“, ähnlich einem Künstler. Den klassischen Sport sieht Gebauer somit in der Tradition des aufgeklärten Individuums, wenn er auch mit einer Mythisierung des Sportlers als Held einhergeht.
Die „neuen Helden“ jedoch, Mittelschichtsbürger, die in ihrer Freizeit zum Beispiel als Triathleten Grenzerfahrungen am Rande der Erschöpfung suchen, ticken anders, wie Gebauer in Interviews empirisch ermittelt hat. Der Extremsportler wendet sich gegen die klassischen Konstrukte des Individuums, die Forderung nach Normalität und den Zwang zur Einmaligkeit. Der Triathlet fühlt sich als „Irrer“, aber der Carbon-Rahmen des Fahrrads ist wichtiger als der Mann auf dem Sattel. „Sein Interesse ist nicht, was das Ich ist, sondern was es sein könnte“, diagnostiziert Gebauer solche sportlichen Versuche des „Ausbruchs aus den gesellschaftlichen Verhältnissen, ohne diese in Frage zu stellen“ und damit eine Parodie auf den Selbsterkenntniskampf des Künstlers.
Dass der Bindestrich zwischen Kunst und Sport oft ein Trennstrich und umgekehrt ist, zeigte schon die Eröffnungsperformance „D.A.V.E.“ von Klaus Obermaier und Chris Haring. Bilder von Körpern huschten darin über Körper und verwischten bewusst, was echter Leib und was Geisterbild sei. (jm)