Kindliche Mütter

„Jetzt fahr’n wir übern See. Mütter und Kinder auf dem Kieler Waldhof“ (D 2003, Antje Hubert)

„Ich fühle mich manchmal selber wie ein kleines Kind.“ Christina spricht es aus, das kleine ganz große Problem von so genannt geistig behinderten Müttern. Im Waldhof, einer Stätte für betreutes Wohnen behinderter Mütter und ihrer Kinder am Stadtrand von Kiel, haben Christina und ihre Tochter Zuflucht gefunden. Vorerst, denn das jugendamtliche Damoklesschwert, dass ihr das Kind weggenommen und in Pflege gegeben wird, hängt über ihr wie über zwei anderen Müttern, deren Alltag Antje Hubert in einem feinfühligen Porträt nachzeichnet.

Was „außen, im wirklichen Leben“ viele meistern, Einkauf, Wäschewaschen und Kinderbetreuung, ist für Christina, Michaela und Andrea nur schwer zu bewältigen. „Draußen“ sind sie gar nicht klar gekommen, im Schutzraum des Waldhofs gelingt es – unter großen Mühen. Michaela erzählt beim Abwasch ihre Geschichte. Mit Geld konnte sie nie umgehen. „Für irgendwas“ hat sie die gesamte „Stütze“ an einem Tag ausgegeben. Im Waldhof bekommt sie ein streng zugeteiltes Taschengeld. Nur solche Einschränkung macht ihr ein „normales“ Leben möglich. Ihr Kind war „schon ein Wunschkind, aber nicht so früh“. Die neue Verantwortung hat sie vollends überfordert. Doch im Waldhof könnte es glücken, Mutter zu sein trotz „Behinderung“, stolz und mit einem witzig-ironischen Blick auf die eigenen Defizite.

Michaela und ihre Tochter beim Frühstück

Auch Andrea hat die Geburt ihres Kindes aus der Bahn geworfen. Die Pille hat sie zwar bekommen, aber nicht eingenommen, ihre Schwangerschaft erst im dritten Monat bemerkt. Aber das Kind, das als Frühchen zur Welt kam, ist ihr „Blut und Fleisch und Herz“ und dafür wird sie kämpfen – wie eine Löwin …

Mutter Sein verlangt die Wahrnehmung einer Rolle. Und die fällt Frauen schwer, die selbst noch Kinder sind, nicht an Lebensjahren, nicht an der Zahl der Frustrationen und Enttäuschungen, von denen sie erzählen, aber „im Geiste“. Ihre Vorstellungen von dem, was eine Mutter sei, von Familienglück, sind ebenso naiv wie sie ein schlaues Empfinden, geradezu einen Instinkt für die Notwendigkeiten der Praxis haben. Antje Hubert und ihre sensibel unaufdringliche Kamerafrau Barbara Metzlaff zeigen die Frauen in eben diesem Spannungsfeld, ziehen Entwicklungslinien nach und begleiten die Mütter weniger als „Behinderte“, denn als Überlebenskünstlerinnen in einer Welt, die Glück nur denen verspricht, die Anforderungen gerecht werden.

Rebellisch bis verschlossen – Christina und ihre Tochter

Rebellisch – vor allem gegen sich selbst – und witzig im Sinne von Gewitztheit gegenüber Herausforderungen, die selbst für „normale“ Kraftreservoirs kaum zu bewältigen sind, gewinnen Frauen ein Profil, das sie als umso geeignetere Mütter erscheinen lässt. Dennoch vermeidet Antje Hubert eine Blickrichtung, die „Behinderte“ als die eigentlich „Wissenden“ zeigt. Die Defizite ihres Daseins werden nicht mit Sozialromantik zugekleistert, sondern als existenzielle Brüche herauspräpariert. Dies aus einer Perspektive, die Distanz wahrt und doch solidarisch mit den drei Müttern und ihren Kindern ist, insofern als sie Partei für sie und ihre ganz eigene Form des Mutter-Kind-Verhältnisses ergreift.

Das ist eine Gratwanderung, die Hubert und ihr Team meistern, indem sie Prozesse zeigen, deren Tempo und Fluss die Porträtierten selbst bestimmen. Längen bleiben dabei in 77 Filmminuten, die kürzer hätten ausfallen können, nicht aus. Aber durch die muss der Zuschauer durch, sich ihnen aussetzen wie die Dargestellten ihrem zähen Kampf um Selbstvertrauen und -achtung.

Berührende Bilder eines innigen Mutter-Kind-Verhältnisses

Quasi nebenbei – und gerade dieses Nebenbei macht den Film frei von jeglicher Gewolltheit – entstehen Bilder, die berühren. Etwa, wenn die Kamera Michaela einfängt, wie sie die „Sesamstraße“ noch hingegebener als ihre Tochter anschaut. Oder wenn Christina ihrem Kind das Volkslied „Jetzt fahr’n wir übern See“ vorsingt, das dem Film den – allerdings etwas rätselhaften – Titel gab, und dabei so selbstvergessen ist, wie nur Kinder sein können. Vielleicht sind derart kindliche Mütter die besten Mütter …? (Gudrun Lübker-Suhre)

„Jetzt fahr’n wir übern See. Mütter und Kinder auf dem Kieler Waldhof“, D 2003, DigiBeta, 77 Min. Buch, Regie: Antje Hubert, Kamera: Barbara Metzlaff, Schnitt: Magdolna Rokob, Produktion: Peter Stockhaus Filmproduktion GmbH, Förderung: Kulturelle Filmförderung S.-H. und MSH. Uraufführung bei „Augenweide“ am Sonntag, 25. Mai, 20.30 Uhr. Weitere Vorführungen am 3.6., 20.30 Uhr und am 4.6., 19 Uhr im KoKi Kiel.

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