Fragment über ein unmögliches Land
Mon voyage d’hiver (Vincent Dieutre, F/B 2003)
„Deutschland, ein Wintermärchen“, nannte Heinrich Heine sein Reiseprotokoll über die schmerzliche Rückkehr in das Land seiner Vertreiber. „Der Tod ist ein Meister aus Deutschland“, ergänzte Paul Celan ein Jahrhundert später. Das Verhältnis der Dichter und Denker zu ihrem angeblichen Vaterland ist ein gespaltenes, auch bei dem alternden Ulrich, der dem 15-jährigen Itvan das Land zeigt, in dem er lange gelebt und geliebt hat. Zu den Liedern aus Schuberts „Winterreise“ beginnt eine Reise durch verschneite Landschaften, deren Romantizismus in vielen Bildern wirkt, als hätte sie Caspar David Friedrich direkt auf die Leinwand geworfen.
Schneetreiben über der Geschichte
Doch das Land der Romantik ist auch ein Land allgegenwärtiger Schuld. „Hier ist alles bedeutend durch die Geschichte der Gewalt“, instruiert der Reisende seinen Eleven. Aus dem Off assistieren ihm O-Töne aus der deutschen Epoche, die viele am liebsten auf ewig in der „Finsternis“ belassen würden. Wunden, die nicht heilen wollen und in Dieutres halb-dokumentarischem Filmessay auch nicht heilen sollen. Es geht um Liebe, Liebe zu einem Land, das man eigentlich nicht mehr lieben kann nach all der Verheerung, die von seinem Boden ausging. Und um die einst verbotene Liebe zwischen zwei alternden Schwulen. Ulrich liebte Georg, der HIV-positiv ist und damit dem Tod geweiht. Zum Nachdenken über das Sterben kommen Ulrich, Georg und der Junge zusammen, mitten im Land, in dem der Tod schöner als anderswo besungen wurde, aber auch grausamer verrichtet.
Dieutre inszeniert eine fragmentarisch-assoziative Bilderreise von teilweise berückender Kraft, ein Selbstporträt eines Erinnerungssüchtigen, der aus dem Exil zurückkehrt in eine nur noch erinnerte Heimat, die es nicht mehr gibt. Die Welt von früher versinkt im Schneetreiben vor der Windschutzscheibe, ertrinkt in romantischer Musik und die Reisenden „ertasten die Asche einer noch nicht erkalteten Geschichte“.
Dieutres Film fasst nach quecksilbrig sich entziehenden Schimären, nach den Nachtmahren der Geschichte und kann (und will) sie doch nicht halten. Sie ziehen vorbei, werden wieder Schatten, nachdem die assoziative Montage sie kurz gestreift hat. Als Eindruck bleibt beim Zuschauer so Beeindruckung, aber auch jene Ratlosigkeit, die die Reisenden im Film ruhelos umtreibt. Ziele, Ankommen kann es in diesem Land, dem „Deutschland, bleiche Mutter“ (Brecht), nicht mehr geben, auch nicht für den Zuschauer. (jm)