Glosse

Backpacker auf der Berlinale

Eindrücke eines Berlinale-Greenhorns

Mein Rucksack wird jeden Tag leichter – und mein Kopf schwerer von Filmbildern. Hätte mich eine der überall „Stimmen“ einfangenden SAT.1-Kameras an meinem ersten Tag auf meiner allerersten Berlinale gefilmt, hätte ich so ausgesehen: Verwirrt, weil der Potsdamer-Platz-Campus noch nicht auf meinem zehn Jahre alten Stadtplan verzeichnet ist. Bemüht, weil ich alles dabei habe, was ich glaube zum Überleben auf der Berlinale dabei haben zu müssen. Nämlich: Erstens das Laptop samt sämtlicher Online-Stecker, die es zum Anleinen im „Schreibraum“ im Presse-Keller des Berlinale-Palasts nötig haben könnte. Zweitens meine Taschen, die gewichtig baumeln. Darin das „Telefonbuch“, der Berlinale-Katalog, einer von vielen, die meine Tasche quellen lassen, Forums-Heftchen, Programmheft, Pressevorführungszettel fürs Panorama, Lageplan, Infozettel … Und natürlich drittens die versammelte Presse des jeweiligen Tages: Was haben die anderen geschrieben, die mit den coolen Weg-Blicken, die wissen, wo’s lang geht?

Berlinale-Backpack-Bär (Foto: jm)

Am zweiten Tag bin ich schon erleichterter. Die Online-Session im „Schreibraum“ (ein archaischer Name für das extrem „busy“ Klick-Continuo aus 40 Tastaturen) kann ich mir sparen und damit das entsprechende Equipment im Backpack. Denn wer im „Schreibraum“ einen Platz ergattert, und sei es nur ein Tischchen mit Stühlchen ohne Online-Anschluss, kann sich so glücklich schätzen wie die konsequenten Früh-Ansteller, die für die Pressevorführung von Film X bereits eine Stunde vor Einlass die Absperrung belauern. Ich schreibe im „Starbuck Coffee“ und wenn da kein Platz ist mit dem Laptop auf den Knien auf den Treppen des CinemaxX.

Ich bin ein Greenhorn, ich weiß noch nicht, wo Bartels das kostenlose Mineralwasser und der gewiefte Filmjournalist die Infos herholt. In die Pressekonferenzen, wo das „Hey here!“-Gebrüll des Photo-Calls noch irrer surrt als die Blitzlichter, komme ich nicht rein. „Ist voll“, sagt der Livrierte am Einlass-Bändchen knapp und sehr dienstlich. Und ich erkenne, dass der „Badget“, der um meinen backpack-versteiften Nacken baumelt und um den mich viele beneiden, ein inflationiertes Privileg ist und daher nicht immer was wert.

An Tag Drei habe ich das „Telefonbuch“ nicht mehr dabei. Nicht weil ich es studiert hätte, sondern weil ich gelernt habe, dass es mir nichts hilft. Die Inhaltsangabe liefert mir der Film selbst – falls ich nicht einschlafe. Ich verlasse mich auf meine Augen, die gerne mitweinen. Ich werde sinnlich! Und ich habe gelernt, dass es Verschwendung ist, im Starbuck den Kaffee zu schlürfen, beim „Backstop“ im Keller der Arkaden kostet er ein Sechstel.

An Tag Vier um Acht, ready for take off zur morgendlichen Wettbewerbspressevorführung zur äußerst unjournalistischen Zeit 9 Uhr, hätte ich fast das Laptop in der Wohnung des Freundes vergessen, bei dem ich übernachte und übernächtigt nachts schreibe. Schon auf der Straße, gehe ich nochmal zurück, um es zu holen – ich werde es den ganzen Tag nicht brauchen.

Tag Fünf: Ich komme nicht mehr hinterher. Die Filme vermischen sich. Ich träume davon, manchmal im Kinoschlaf des einen Films von dem vorher. Wirrnis. Am Ende werde ich 24 Filme gesehen haben. Die Kollegen, die mit den leichten Taschen, mit dem flinken Stift und mit dem wissenden Blick, lächeln: „Das ist noch gar nichts. Das mach‘ ich in drei Tagen.“

Tag Sechs bringt die Erkenntnis, dass es total unoriginell ist, den Plan einer Glosse über das Journalisten-Dasein auf der Berlinale in die Feder umzusetzen. Man liest dergleichen in jeder der Gazetten, die in dicken Stapeln im Presse-Souterrain kostenlos ausliegen. Weises Berlinale-Rauschen. Die anderen, die mit den …, waren mal wieder fixer. Die haben Online-Plätze erobert. Die saßen im Kino nicht hinter Großkopferten, die die englischen Untertitel zum O-Ton in Mandarin verdeckten. Die schliefen nicht ein, um vom Kino im Kopf zu träumen. Die drängelten im Delphi, obwohl es längst keine Plätze mehr für die Martial-Arts-Reihe gab.

Die Berlinale-erfahrene Kollegin, der ich eine SMS geschickt hatte, dass ich ganz vorne in der Reihe stünde und ihr einen Platz frei halten würde, ist schon drin. Lächelnd, dieses schöne Kinolächeln, zeigt sie mir meinen Platz neben sich. Sie war schneller … Es ist mein 19. Film – oder so. Die Sterne der Berlinale-Fanfare zeichnen den Bären auf die Leinwand. Es geht los. Und ich beginne, mein Backpack-Sammelsurium zu meinen Füßen verstaut und Notizblock und Leuchtstift in den Händen, zu träumen … (jm)

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