film20 – Anlage 2:

Ein Durchlauferhitzer

Das deutsche Kino in seiner ewigen Krise / Von Günter Rohrbach

Das Berlinale-Hoch liegt hinter uns, wir sind zurück im Kino-Alltag. Zurück beim Katzenjammer, dem vertrauten Grundton des deutschen Kinofreundes? Vier deutsche Filme im Berliner Wettbewerb, dazu die Reihe Perspektiven, so hatte man uns seit Jahrzehnten nicht mehr verwöhnt. Das musste tiefe Spuren der Dankbarkeit hinterlassen. Dabei hatte es auch früher schon Jahregegeben, in denen man vier Filme hätte finden können, wäre nur sorgfältig genug danach gesucht worden. Also kein Grund, jetzt zerknirscht zu sein, nachdem nicht alles Früchte trug, was zuvor so prächtig zu blühen schien. Sollen wir Tom Tykwer dafür schmähen, dass ihm trotz amerikanischer Hilfe nicht schon wieder ein Meisterwerk gelang, sondern „nur“ ein ziemlich guter Film? Muss Dominik Graf dafür gescholten werden, dass er sich darauf einließ, einen wegen ausbleibender Förderung brutal herunter kalkulierten Film gegen alle Vernunft doch zu machen? Oder sollten wir umgekehrt Andreas Dresen loben, weil er sich an den Rand des Landes zurückzog, um dort so etwas wie einen dänischen Film zu drehen?

Nein, es hat sich nichts geändert am Stand der Dinge. Wir leben, wie immer, von der Hand in den Mund und freuen uns, wenn gelegentlich ein dickeres Stück diesen Weg nimmt.

Freilich scheint sich zunehmend deutlicher eine Entwicklung abzuzeichnen, die uns Mut machen sollte, wäre sie nicht zugleich auch ein Signal drohender Perspektivlosigkeit. Die interessanteren Filme der letzten Jahre sind durchweg Erstlingswerke, meist aus dem Umkreis der Filmhochschulen. Sie entstehen dort in großer Freiheit, ohne Erfolgsdruck und als Ergebnis eines langen Reifeprozesses. Die Etats sind niedrig, weil die Schauspieler auf ihre normale Gage verzichten und die Teams ohnehin aus Freunden bestehen. Filme wie „Vergiss Amerika“, „alaska.de“, „Nichts bereuen“, „Berlin is in Germany“; „Das weiße Rauschen“ mögen dafür stehen. Die Liste ist beliebig verlängerbar. An den Kinokassen spielen diese Filme nur eine marginale Rolle, bei den diversen Filmpreisen hingegen stehen sie ganz vorne.

Junge Gilde

Die Probleme für die jungen Filmemacher beginnen in der Regel mit den zweiten Filmen. Plötzlich ist der Erwartungsdruck da, die deutlich höheren Budgets schrumpfen auf ihr reales Maß, da die Mitwirkenden sich des Umstands erinnern, von ihrer Arbeit leben zu müssen. Die warme Treibhausluft der Filmhochschulen weicht der Eiseskälte des Marktes. Nur wenige Regisseurinnen und Regisseure, soeben noch als Hoffnung hoch gehandelt, halten den neuen Bedingungen stand. In den günstigen Fällen beginnen nun die Fernsehkarrieren.

Der deutsche Filmregisseur ist jung. Er ist es auf beiden Seiten des Grabens, denn auch die kommerziell erfolgreichen Filme stammen immer häufiger von Newcomern. Die Talentscouts sind ständig unterwegs, in den Screenings der Filmschulen sitzen die Produzenten und Redakteure zuhauf, um das jeweils neueste Genie aufzuspüren. Nichts scheint bei entsprechender Begabung leichter zu sein, als in Deutschland einen ersten Film machen zu können. Bei internationalen Festivals schneiden deutsche Studenten hervorragend ab. Hier, wo noch Waffengleichheit herrscht, ist selbst der Oscar ein reales Ziel.

Doch nach oben knicken die Lebensläufe weg. Während in Frankreich, um von Amerika gar nicht erst zu reden, die Generation der Siebzigjährigen noch selbstverständlich aktiv ist, wie die Filme von Rohmer (dem bereits Achtzigjährigen), Chabrol, Tavernier, Rivette, Resnais und anderen beweisen, sind bei uns schon die Sechzigjährigen nicht mehr gefragt. Schlöndorff hat nach langer Zeit der Abstinenz zuletzt einen Fernsehfilm gedreht, der im Kino chancenlos bleiben musste, Ähnliches gilt für Herzog. Vilsmaier, vor kurzem noch der agilste von allen, scheint zu resignieren, die Trotta macht seit Jahren nur noch Fernsehen. Die beiden Ausnahmen sind Wenders und Petersen. Wenders pendelt zwischen den Kontinenten, aber nur im Ausland entspricht seine Reputation noch seinem wahren Rang. Petersen ist ein Sonderfall, und es beweist nur die Naivität der Beteiligten, wenn gelegentlich gefragt wird, ob man ihn nicht nach Deutschland zurückholen könne. Was, um Himmels willen, soll einer wie er hier drehen, wo die Budgets weitaus niedriger sind als drüben seine persönliche Gage? Etwa Tatort wie vor dreißig Jahren?

Es lohnt sich auch der Blick auf die Generation der Fünfzigjährigen. Helmut Dietl versucht sich seit Jahren ächzend als Produzent, weil er für seine Filme zu lange braucht, um davon leben zu können. Dominik Graf hat sich ins Fernsehen verkrochen, Uli Edel dreht amerikanisches TV-Movies, Doris Dörrie erzählt ihre Geschichten inzwischen lieber zwischen zwei Buchdeckeln, und wenn sie trotzdem Kino macht, dann eher etwas kleines. Bleiben ein paar Vierzigjährige und die große Kohorte der Jungen, die allerdings mehrheitlich auch schon in den Dreißigern ist. Warum ist das so, warum gibt es im deutschen Film keine Kontinuitäten in den Lebensläufen?

Man stelle sich vor, im deutschen Theater gäbe es nur die Ostermeiers, aber nicht auch Luc Bondy, Christoph Marthaler, Claus Peymann, Peter Zadek und all die andern, die irgendwo dazwischen liegen. Der Theaterregisseur fängt auf der Werkstattbühne an, möglichst irgendwo in der Provinz, wandert dann in die Kammerspiele und, wenn das Talent es hergibt, irgendwann ins große Haus. Und auf diesem Weg verbessern sich fortlaufend seine Bedingungen, er bekommt die stärkeren Schauspieler, die begabteren Mitarbeiter, die größeren Budgets.

Der deutsche Filmregisseur dagegen bleibt sein Leben lang auf die Werkstatt verwiesen. Es gibt kein Entrinnen, es sei denn, Hollywood ruft. Oder das deutsche Fernsehen. Einige Regisseure wie Dieter Wedel oder Heinrich Bre loer haben daraus die Konsequenz gezogen, ihr Glück gar nicht erst außerhalb suchen zu wollen. Sie sind damit gut gefahren.

Das deutsche Kino zwängt die Regisseure lebenslänglich in das Korsett mittelmäßiger Budgets und ignoriert den klassischen Entwicklungsprozess, dem Künstler unterworfen sind. Es ist ein andernorts ständig widerlegter Irrtum, dass ältere Filmemacher für die Bedürfnisse der in ihrer Mehrheit jüngeren Kinobesucher keine Sensibilität mehr hätten. Aber sie haben einen anderen Schatz an Erfahrungen und gewachsene Ansprüche an die Komplexität, in der sie diese mitteilen möchten. Das verlangt nach größeren Spielräumen. Die Fixierung auf den jungen Zuschauer droht das deutsche Kino überdies in eine Sackgasse zu führen. Da sie sich von den aktuellen Filmen immer weniger angesprochen fühlen, bleiben die Erwachsenen zunehmend dem Kino fern, mehr als irgendwo sonst in Europa. Wenn dieser Trend umgekehrt werden soll, müssen Möglichkeiten für jene Regisseurinnen und Regisseure geschaffen werden, die sowohl die Interessen wie die Qualitätsansprüche eines erwachsenen Publikums in Blick haben.

Fast noch härter stellt sich die Situation für die Schauspieler dar. Sie haben eine Halbwertzeit von wenigen Jahren, dann gelten sie in unserem Kino als verbraucht. Stars wie die Huppert, die Deneuve oder Depardieu kennt allenfalls in seinen Grenzen das deutsche Fernsehen. Und weil das so ist, weil es im deutschen Kino keine Beständigkeit gibt, fehlt ihm die Ausstrahlung in andere Länder hinein. Wie sollen wir mit Regisseuren und Schauspielern, die wir selbst nicht pflegen, Interesse für internationale Koproduktionen wecken?

Das deutsche Kino ist ein Durchlauferhitzer für zum schnellen Verbrauch bestimmte Talente. Daran wird sich nichts ändern, so lange die Bedingungen sind, wie sie sind. Wenn es nicht gelingt, daran zu rütteln, wird der deutsche Film auch im nächsten Jahrzehnt dort verharren, wo er sich schon lange eingerichtet hat. Mit oder ohne Berlin.

Aus der Süddeutschen Zeitung vom 11. März 2002

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