Neues aus dem Kieler Underground
Hansafilmpalast, 5. Dezember 2001: Der Kieler Film-Underground lebt nicht nur, sondern zeigte im Kino des Kieler Kommunikationszentrums Hansastraße 48 beachtenswerte neue (wenn nicht ganz neu, so doch noch nie in Kiel gezeigte) Produktionen.
Die Filmgruppe Chaos ist nicht nur durch ihre regelmäßigen Präsentationen von „Raritäten“ in der allmonatlichen Filmnacht in der Kieler Tanzdiele seit langem ein Faktor für experimentelle Erweiterungen vornehmlich des Super-8-Formats. Beim Hansafilmpalast-Event zeigten die Chaos-Filmer drei Kurzfilme der besonderen Art.
Jahrelang hing in Karsten Webers Küche ein Filmstreifen einer im Müll gefundenen Lichtkopie von Gerhard Polts „Man spricht spricht Deutsch“. Ausgeblichen im Sonnenlicht zahlreicher Sommer, von Brat- und sonstigen Dünsten angegriffen, hat Karsten Weber den abgehangenen Streifen nun gecuttet und mit einem Soundtrack des Kieler „Didj-Masters Philth“ versehen. Entstanden sind 90 Sekunden rötliches Material, das seine Geschichte nicht verhehlt und auch nicht die Spuren von 10 Jahren „unsachgemäßer“ Aufbewahrung. Der Experimental-Streifen wurde bei den Kurzfilmfesten in Weiterstadt und Dresden gezeigt.
Kurz vor der Abfahrt nach Weiterstadt saß Karsten Weber noch am Schnittplatz, um etwas ganz Aktuelles fertig zu machen, eine Dokumentarfilm-Collage über den erschossenen Demonstranten beim G8-Gipfel Ende Juli in Genua. In Eisensteinscher Parallel- und Kollisionsmontage entwirft „Notwehr“, der in Dresden ebenso lief wie als Opener der Kurzfilmnacht der diesjährigen Nordischen Filmtage in Lübeck, ein Bild der Globalisierung, das den unmittelbaren Konnex zwischen Börsenkursnotierungen und dem Tod eines ihrer Gegner erfahrbar macht. Im flirrenden Wechsel der Schnitte rasen in 2,5 Minuten Super-8-Bilder von Zeitungsausschnitten über die Leinwand, abbildend das Zappen der Medien, die doch nie zeigen, was wirklich geschah. Ein Meisterwerk der Montage.
Ebenfalls aus dem Labor der Filmgruppe Chaos stammt der kaum 30 Sekunden zählende Kurzfilm „Unsere Jungs“. Aktuell wie nie haben die Chaos-Filmer Spielzeugsoldaten animiert und mit einem bezeichnenden Soundtrack aus dem Off versehen: „Frieden, oh, Frieden“ und „Peace!“ heißt es entlarvend über die „Peacemaker“ deutscher Provinienz und Waffenbrüderschaft mit dem Weltpolizisten USA, die derzeit Afghanistan „Frieden“, vor allem aber deutsche Weltpolitikinteressen beibringen wollen. Sowohl in Weiterstadt wie beim Schwenninger Kurzfilmfest wurde dieser auf wenige Sekunden komprimierte Kommentar zur weltpolitischen Lage gezeigt.
Ebenfalls in Weiterstadt und bei den Dresdner Schmalfilmtagen lief Daniel Krönkes „Stufe 1“, eine Art Video-Clip auf Super-8 zu dem gleichnamigen Musikstück der Eckernförder Band Usenkuss. Ähnlich wie in einem Projekt „Film als Kommentar zur Musik“, das im Februar der Offene Kanal Kiel veranstalten wird, übersetzt Krönke die Musik und ihren Text in melancholisch anmutende Filmbilder. „Träum doch“, fordert der Text immer wieder auf und Krönkes Bilder liefern sich dem aus. Der 4,5 Minuten lange Super-8-Film lief im Kurzfilmprogramm der Nordischen Filmtage und errang einen 3. Platz in der Rubrik „Experimentelles“ des vom Offenen Kanal Kiel ausgeschriebenen Wettbewerbs „Tiefenschärfe“.
Apropos Traum. Daniel Krönkes gleichnamiger Film „Der Traum“ (Produktion und Darsteller: der Kieler Künstler Ulrich Horstmann, weitere Darstellerin Sabine Waitzbauer, 7,5 Minuten, Super-8, 2. Platz im thematischen Wettbewerb der Dresdener Schmalfilmtage) spielt mit surrealen und stummfilmhaften Elementen.
Ein Mann wird das Bild einer Frau nicht los, die ihm im Spiegel ebenso erscheint wie als Fantasma in der Kaffee-Tasse. Doch wer imaginiert hier wen? Sollte es am Ende nur ein Traum der Frau von einem Liebhaber sein, der nicht wirklich existiert? Krönke lässt die Antwort offen und zeichnet mit selbst entwickeltem Negativmaterial auf der Ebene des Materiellen, das Film immer auch ist, in „subjektiver Perspektive“ und mit filmisch eigentlich „verbotenen“ Schnitten ein Bild im Bild, das zwischen seltsam abständig und doch innig verbunden mit den Gefühlen der Darsteller changiert. (jm)