56. Internationale Filmfestspiele Berlin – Berlinale 2006

Volkstrauertag in deutschen Filmen

„Komm näher“ (Vanessa Jopp, D 2005), „Vier Fenster“ (Christian Moris Müller, D 2005), „Requiem“ (Hans-Christian Schmid, D 2006), „Sehnsucht” (Valeska Grisebach, D 2005)

Mit vielen Vorschusslorbeeren wurden die deutschen Filme schon vor der Berlinale bedacht, frei nach dem Motto „Wir sind wieder wer“. Nun, beim „sich selber auf die Schulter Klopfen“ gehörte die deutsche Filmbranche schon immer zu den ganz Großen, und seit Dieter Kosslick Festivaldirektor ist, spielt auch die hiesige Presse mit. So feierte dann das Wir-Gefühl auch heuer wieder ungeahnte Urstände und kritikarme Hofberichterstattung wirkte auch dann allenthalben deshalb so unverdächtig, weil selbst so verdiente Sender wie 3Sat (zusammen mit dem ZDF einer der Hauptsponsoren des Festivals) fleißige PR-Arbeit mit Presseberichterstattung verwechselten.

Mehr als 50 deutsche Filme im Festivalprogramm, darunter gleich vier im Wettbewerb, schienen zu kühnsten Hoffnungen Anlass zu geben. Und auch nach dem Festival war die Freude groß. „Preisregen für deutsche Beiträge auf der Berlinale“, jubelte z.B. www.filmportal.de und meinte damit die beiden Silbernen Bären für Sandra Hüller („Requiem“) und Moritz Bleibtreu („Elementarteilchen“) als bester Darsteller sowie den Silbernen Bären für Jürgen Vogel für seine Gesamtleistung als Darsteller, Co-Autor und Produzent von „Der freie Wille“. Weshalb Bleibtreu den Silbernen Bären erhielt, mag für immer das Geheimnis der Jury bleiben. Oskar Roehlers „Elementarteilchen“, eine eher peinliche, dennoch streckenweise amüsante Klamotte, die in ihrem teutonischen Kitsch von Weitem an einige Simmel-Verfilmungen (von Alfred Vohrer) der 70er Jahre erinnert, wird damit aber leider unverdientermaßen noch mehr hochgejubelt, als es schon durch die Tatsache bewirkt wird, dass es sich um eine Verfilmung eines Romans von Michel Houellebecq handelt.

Wenn man unvoreingenommen viele deutsche Filme im winterlichen Berlin gesehen hat, fällt einem vor allem die trübe Grundstimmung, das Largo, der Pessimismus und die stabile, statische Hoffnungslosigkeit in ihnen auf. Der deutsche Spielfilm als trauriger Chronist des hiesigen gesellschaftlichen Seelenzustandes. Alles wirkt grau. Weltuntergangsstimmung verfeinert und made in Germany. Einen Ausweg scheint es kaum zu geben.

„Komm näher“ von Vanessa Jopp ist so ein Film dieses „Trends“, der das Eintrüben der gesellschaftlichen Befindlichkeit mit Lust entwickelt. Jopp hat Glück gehabt, nämlich ausnahmslos gute Darsteller, und die holen mit ihrem improvisierten, unmittelbaren Spiel noch viel heraus aus den drei dünnen Geschichtchen, die die Drehbuchautoren Adrienne Bartoli und Stefan Schneider erst während der Dreharbeiten erdacht haben und die nun relativ forciert und konstruiert verknüpft werden in diesem mit neun Vornominierungen für den Deutschen Filmpreis bedachten Film.

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Meret Becker in „Komm näher“ (Foto: Berlinale)

Das auf Dokudrama getrimmte Episoden-Tableau – gedreht mit zwei MiniDV-Kameras – ist im winterlichen, kleinbürgerlichen Berlin angesiedelt und erzählt von vereinsamten Menschen, die sich scheinbar am Schluss aus der Einsamkeit retten können. Mathilda (Meret Becker), unausgesprochen eine sichere „Hartz-4-Aspirantin“, lebt ihren Daseinsfrust in Borderline-verdächtigem, aggressivem Verhalten aus. Als sie sich in den Polizisten Bronski (Hinnerk Schönemann) verliebt, kommt sie nur schwer mit ihren Gefühlen zurecht. Ihre Schwester Ali (Stefanie Stappenbeck), die mit David (Marek Harloff) ein Kind hat, überfordert sich und ihre Partnerschaft, als sie weiterhin eine Karriere als Architektin anstrebt, was zur totalen Krise führt. Und als David von zu Hause ausbricht, steigt er ins Taxi von Andi (Fritz Roth), der über eine Kontaktanzeige die spröde Putzfrau Johanna (Heidrun Bartolomäus) kennen gelernt hat, mit deren Tochter Mandy (Marie-Luise Schramm) er sich ahnungslos via Telefonflirt amüsiert. Fast allen Personen ist gemeinsam, dass sie nur schwer einen Weg aus ihrer Isolation finden können und eher lebensunfähig vor sich hin dümpeln. Sie strampeln sich alle ab in diesem tristen Milieu aus Alt- und Neubauwohnung, Wurstbude, Kneipe, Polizeistation und Bürgersteig. Regisseurin Jopp erzählt, dass die Figuren sich beim Drehen selbstständig gemacht hätten. Schön für die Schauspieler, die sich mal so ausspielen konnten, schlecht für den Film, der doch oft an einer kaum vorhandenen Regie leidet. Früher hätte man von Proletarierschicksalen gesprochen. Doch gibt es die heute noch? – Na, vielleicht sollten wir den Film einfach und gerechterweise unter Sozial-Misere-Klischee-Gesuhle abhaken, mit angehängtem Happy End, versteht sich. Denn Mathilda bekommt trotz ihres soziopathischen Verhaltens den Polizisten; Ali findet endlich die Kraft sich von David zu trennen, den sie uneingestanden schon lange nicht mehr liebte, und Johanna wirft zwar ungerechterweise Andi aus ihrer Wohnung, kommt aber darüber ihrer spätpubertierenden Tochter endlich wieder nahe.

Noch so einen psycho-sozialen Volkstrauertagsfilm bekam man mit „Vier Fenster“ von Christian Moris Müller zu sehen. Auffällig waren wieder die guten Darstellerleistungen. Müller geht den Weg der strengsten Stilisierung vor den so beliebten öden Real-Kulissen: Mietskaserne, Pornokinokabinen, Kneipe, Herrentoilette. Da wirkt ja schon die U-Bahn-Station, in der sich der Vater täglich herumlümmelt, wie eine Erholung. Vater, Mutter, Sohn und Tochter weiden sich an der mühsam bemäntelten Familienkatastrophe. Wieder sind alle auf der Suche nach Nähe. Doch jeder macht den anderen etwas vor. Wieder sollen Sprachlosigkeit und Floskelschablonen allgemeine Ohnmacht belegen. Nicht der geringste Ausweg scheint sich in diesem Drama anzudeuten. Jeder leidet in seiner düsteren Einbahnstraße. Dem Zuschauer bleibt bestenfalls ein Depressionsgewinn, wenn er denn überhaupt mitleiden mag.

Ganz anders „Requiem“ von Hans-Christian Schmid. Eine junge Frau – ganz großartig: Sandra Hüller in ihrer ersten Filmhauptrolle – geht vor die Hunde. Kein trauriger Zustand wird filmisch „hingepackt“, sondern eine tragische Geschichte erzählt, die den Zuschauer packt. Dabei wird Leid nicht ausgestellt, sondern entsteht durch falsche Entscheidungen oder, wenn man so will, durch Rückständigkeit der Provinz. Es geht auch nicht um die spektakuläre Darstellung einer so genannten Teufelsaustreibung, sondern um das Schicksal einer jungen Studentin im Umgang mit ihrer psychischen Krankheit, ihre fehlgedeuteten Wahnvorstellungen und um eine Darstellung der deutschen Provinz Mitte der 70er Jahre in ihrer geistigen und sozialen Enge. Eine nicht geglückte Ablösung der Tochter von der gefühlskalten Mutter und falsche Hilfe führen ins Unglück, das schließlich wie naturgegeben von dem Opfer akzeptiert wird.

Letztlich unabdingbar hilflos präsentieren sich die Figuren in „Sehnsucht“ von Valeska Grisebach. Die Regisseurin versucht, mit Laiendarstellern dem wirklichen Leben auf die Spur zu kommen. Das Alltagsdrama eines ganz normalen „Ehebruchs“ wird in wortkarger Schlichtheit erzählt, die man den Protagonisten abnimmt. Ja, so könnte es wohl zugehen, denkt man hinterher. Aber was soll dieser Film in seiner minutiös nacherzählten Ereignislosigkeit im Kino? Langmut schützt nicht immer vor Langeweile. „Sehnsucht“ scheint doch eher geschaffen fürs Nachtprogramm des „Kleinen Fernsehspiels“ vom ZDF, das ihn ja auch mitproduziert hat, und das ihn schließlich nach 24 Uhr auch „versenden“ wird. Der Enthusiasmus von etlichen Festivalbesuchern in allen Ehren. Es müssen ja nicht ewig Blockbuster sein. Deshalb mag man die akademische Freude an dem ganz anderen verstehen, ohne an ihr teilhaben zu müssen. (Helmut Schulzeck)

 

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